Die vorschwebenden Oberlippen sind beynah ein Charakterzug aller Raphaelischen Profil- köpfe, und mir ist noch kein Mensch mit diesem Zuge zu Gesichte gekommen, der nicht über den ge- meinen Kreis der Menschen sich empor hob.
Ohne den schon angezeigten Fehler würde 2, ich vermuthe, daß es Johannes vorstellen oll, beynahe das erhabenste Gesicht seyn -- So aber scheint ihm 6, und weit mehr noch 8. vorzu- stehen.
Die Höhe der Stirn in 12, und der irreguläre Einbug drinn, verkleinlichen den Ausdruck der sonst nicht gemeinen Physiognomie sehr.
7. Scheint weniger erhaben als aufrichtig und unschuldig gläubig.
5. Obgleich die Stirne nicht zur Nase zu passen scheint; obgleich Aug und Nase einander zu nahe sind, welche beyde Fehler das Gesicht in meinen Augen ziemlich verdächtig machen würden, so bleibt dennoch in Aug, Mund, Nase, Kinn und Haar noch viel Größe übrig.
Das wenige, was man von 4. sieht, zeigt ganz sicherlich einen großen, einfachen, reinen, kraftvollen Charakter.
Hier noch ein Christusgesicht aus einer französischen Fußwaschung -- schlecht kopirt -- die Stirn, die an sich äußerst gemein ist, und auch zu dem übrigen des Gesichtes nicht paßt, diese Stirn ists vornehmlich, was das Gesicht erniedrigt.
[Abbildung]
P. Die
Chriſtusbilder.
Die vorſchwebenden Oberlippen ſind beynah ein Charakterzug aller Raphaeliſchen Profil- koͤpfe, und mir iſt noch kein Menſch mit dieſem Zuge zu Geſichte gekommen, der nicht uͤber den ge- meinen Kreis der Menſchen ſich empor hob.
Ohne den ſchon angezeigten Fehler wuͤrde 2, ich vermuthe, daß es Johannes vorſtellen oll, beynahe das erhabenſte Geſicht ſeyn — So aber ſcheint ihm 6, und weit mehr noch 8. vorzu- ſtehen.
Die Hoͤhe der Stirn in 12, und der irregulaͤre Einbug drinn, verkleinlichen den Ausdruck der ſonſt nicht gemeinen Phyſiognomie ſehr.
7. Scheint weniger erhaben als aufrichtig und unſchuldig glaͤubig.
5. Obgleich die Stirne nicht zur Naſe zu paſſen ſcheint; obgleich Aug und Naſe einander zu nahe ſind, welche beyde Fehler das Geſicht in meinen Augen ziemlich verdaͤchtig machen wuͤrden, ſo bleibt dennoch in Aug, Mund, Naſe, Kinn und Haar noch viel Groͤße uͤbrig.
Das wenige, was man von 4. ſieht, zeigt ganz ſicherlich einen großen, einfachen, reinen, kraftvollen Charakter.
Hier noch ein Chriſtusgeſicht aus einer franzoͤſiſchen Fußwaſchung — ſchlecht kopirt — die Stirn, die an ſich aͤußerſt gemein iſt, und auch zu dem uͤbrigen des Geſichtes nicht paßt, dieſe Stirn iſts vornehmlich, was das Geſicht erniedrigt.
[Abbildung]
P. Die
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Chriſtusbilder.
Die vorſchwebenden Oberlippen ſind beynah ein Charakterzug aller Raphaeliſchen Profil-
koͤpfe, und mir iſt noch kein Menſch mit dieſem Zuge zu Geſichte gekommen, der nicht uͤber den ge-
meinen Kreis der Menſchen ſich empor hob.
Ohne den ſchon angezeigten Fehler wuͤrde 2, ich vermuthe, daß es Johannes vorſtellen
oll, beynahe das erhabenſte Geſicht ſeyn — So aber ſcheint ihm 6, und weit mehr noch 8. vorzu-
ſtehen.
Die Hoͤhe der Stirn in 12, und der irregulaͤre Einbug drinn, verkleinlichen den Ausdruck
der ſonſt nicht gemeinen Phyſiognomie ſehr.
7. Scheint weniger erhaben als aufrichtig und unſchuldig glaͤubig.
5. Obgleich die Stirne nicht zur Naſe zu paſſen ſcheint; obgleich Aug und Naſe einander
zu nahe ſind, welche beyde Fehler das Geſicht in meinen Augen ziemlich verdaͤchtig machen wuͤrden,
ſo bleibt dennoch in Aug, Mund, Naſe, Kinn und Haar noch viel Groͤße uͤbrig.
Das wenige, was man von 4. ſieht, zeigt ganz ſicherlich einen großen, einfachen, reinen,
kraftvollen Charakter.
Hier noch ein Chriſtusgeſicht aus einer franzoͤſiſchen Fußwaſchung — ſchlecht kopirt —
die Stirn, die an ſich aͤußerſt gemein iſt, und auch zu dem uͤbrigen des Geſichtes nicht paßt, dieſe
Stirn iſts vornehmlich, was das Geſicht erniedrigt.
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P. Die
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/599>, abgerufen am 22.11.2024.
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