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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Ueber das Studium der Physiognomik.
die keine Physiognomen sind, und nicht zeichnen können, ich weiß es, schreyen wider diese Manier; und sie ist
und bleibt dennoch wie für den Zeichner, so für den Physiognomisten die einzige, die alle Vorzüge der Leich-
tigkeit,
der Bestimmtheit, der Deutlichkeit, der Lernbarkeit, und noch manche andere in sich vereinigt. Le
Brüns
bekannte Passionen sind allein schon hinlänglicher Beweis von der Nützlichkeit dieser Manier.

20.

Die Oelgemählde sind für den Physiognomisten die brauchbarsten, wenn sie vollkommen sind; aber sie
sind es so selten, und wenn sie's sind, so kostbar, daß königliche Schätze zu einem guten Cabinette von solchen
würden erfordert werden. Die unbrauchbarsten sind die mit schwarzer Kreide. Jch mißrathe sie so wohl als die
kleinen Mignaturgemählde schlechterdings allen physiognomischen Zeichnern. Sie gewöhnen sich dadurch an eine
gewisse freye, mahlerisch seyn sollende, aber äußerst unbestimmte, mithin unwahre und unnatürliche Manier. Um
den physiognomischen Charakter eines Gesichtes rund, mahlerisch, kräftig und scharf bestimmt zugleich aufs beste
zu zeichnen, habe ich bisher nichts gefunden, das dem englischen Bleystift, durch scharfe Pinselstriche vom
feinsten Tusche verschärft, gleich käme, wenn nämlich das Zimmer von allen Seiten ganz dunkel, und die Oeff-
nung zum einfallenden Lichte rund, nicht viel breiter als ein Fuß, und etwa drey bis vier Fuß höher ist, als der
etwas seitwärts stehende Kopf dessen, der gezeichnet werden soll. Nach mannichfaltigen Versuchen fand ich keine
leichtere, mahlerisch schönere, und zugleich charakteristischere Manier für alle Arten von Gesichtern, wie diese.
Für einige Gesichter, glaube ich, wäre das perpendikular herabfallende Licht eben so gut, aber nur für platte und
zart gegliederte Gesichter, denn die Schatten der stark gegliederten würden zu viel bedecken. Jn vorbesagter
Lage wäre es auch sehr dienlich, sich einer Camera obscura zu bedienen, die den so erleuchteten Kopf etwa um
drey Viertheile verkleinerte, nicht um unmittelbar durch zu zeichnen; denn dieß ist der Bewegung wegen wohl un-
möglich, sondern um immer leichter Zeichnung und Wahrheit vergleichen zu können.

21.

Physiognomische Schriften, die ich rathen möchte? -- wie gerne, wenn ich mit gutem Gewissen
viel rathen könnte! -- Mein Rath an den jungen Physiognomisten ist: Setz einmal vierzehn Tage dazu aus, sie
alle zu durchlaufen. Exzerpire dir, auf weitere Nachforschung hin, das Bestimmte ihrer Behauptungen. Es
ist schon gesagt: wenn man zween oder drey gelesen hat, so hat man ziemlich alle gelesen. Porta aus den äl-
tern, Peuschel und Pernetty aus den neuern haben fast alles gesammelt. Ersterer schlechtes, gutes, elendes,
sich selbst widersprechendes. Alles, was Aristoteles, Plinius, Suetonius, Polemon, Adamantinus, Ga-
lenus, Trogus Conciliator, Albertus, Skotus, Maletius, Avizenna,
*) und noch viele andere vor ihm

geschrie-
*) [Spaltenumbruch] Jch kenne die wenigsten dieser Schriftsteller unmit-
telbar, und kann also kein Urtheil über sie fällen; doch,
[Spaltenumbruch] aus den Zitationen zu schließen, gestehe ich aufrichtig,
daß ich nicht Lust hatte, sie selbst alle durchzulesen. Auch
kenne
Phys. Fragm. IV Versuch. N n n

Ueber das Studium der Phyſiognomik.
die keine Phyſiognomen ſind, und nicht zeichnen koͤnnen, ich weiß es, ſchreyen wider dieſe Manier; und ſie iſt
und bleibt dennoch wie fuͤr den Zeichner, ſo fuͤr den Phyſiognomiſten die einzige, die alle Vorzuͤge der Leich-
tigkeit,
der Beſtimmtheit, der Deutlichkeit, der Lernbarkeit, und noch manche andere in ſich vereinigt. Le
Bruͤns
bekannte Paſſionen ſind allein ſchon hinlaͤnglicher Beweis von der Nuͤtzlichkeit dieſer Manier.

20.

Die Oelgemaͤhlde ſind fuͤr den Phyſiognomiſten die brauchbarſten, wenn ſie vollkommen ſind; aber ſie
ſind es ſo ſelten, und wenn ſie’s ſind, ſo koſtbar, daß koͤnigliche Schaͤtze zu einem guten Cabinette von ſolchen
wuͤrden erfordert werden. Die unbrauchbarſten ſind die mit ſchwarzer Kreide. Jch mißrathe ſie ſo wohl als die
kleinen Mignaturgemaͤhlde ſchlechterdings allen phyſiognomiſchen Zeichnern. Sie gewoͤhnen ſich dadurch an eine
gewiſſe freye, mahleriſch ſeyn ſollende, aber aͤußerſt unbeſtimmte, mithin unwahre und unnatuͤrliche Manier. Um
den phyſiognomiſchen Charakter eines Geſichtes rund, mahleriſch, kraͤftig und ſcharf beſtimmt zugleich aufs beſte
zu zeichnen, habe ich bisher nichts gefunden, das dem engliſchen Bleyſtift, durch ſcharfe Pinſelſtriche vom
feinſten Tuſche verſchaͤrft, gleich kaͤme, wenn naͤmlich das Zimmer von allen Seiten ganz dunkel, und die Oeff-
nung zum einfallenden Lichte rund, nicht viel breiter als ein Fuß, und etwa drey bis vier Fuß hoͤher iſt, als der
etwas ſeitwaͤrts ſtehende Kopf deſſen, der gezeichnet werden ſoll. Nach mannichfaltigen Verſuchen fand ich keine
leichtere, mahleriſch ſchoͤnere, und zugleich charakteriſtiſchere Manier fuͤr alle Arten von Geſichtern, wie dieſe.
Fuͤr einige Geſichter, glaube ich, waͤre das perpendikular herabfallende Licht eben ſo gut, aber nur fuͤr platte und
zart gegliederte Geſichter, denn die Schatten der ſtark gegliederten wuͤrden zu viel bedecken. Jn vorbeſagter
Lage waͤre es auch ſehr dienlich, ſich einer Camera obſcura zu bedienen, die den ſo erleuchteten Kopf etwa um
drey Viertheile verkleinerte, nicht um unmittelbar durch zu zeichnen; denn dieß iſt der Bewegung wegen wohl un-
moͤglich, ſondern um immer leichter Zeichnung und Wahrheit vergleichen zu koͤnnen.

21.

Phyſiognomiſche Schriften, die ich rathen moͤchte? — wie gerne, wenn ich mit gutem Gewiſſen
viel rathen koͤnnte! — Mein Rath an den jungen Phyſiognomiſten iſt: Setz einmal vierzehn Tage dazu aus, ſie
alle zu durchlaufen. Exzerpire dir, auf weitere Nachforſchung hin, das Beſtimmte ihrer Behauptungen. Es
iſt ſchon geſagt: wenn man zween oder drey geleſen hat, ſo hat man ziemlich alle geleſen. Porta aus den aͤl-
tern, Peuſchel und Pernetty aus den neuern haben faſt alles geſammelt. Erſterer ſchlechtes, gutes, elendes,
ſich ſelbſt widerſprechendes. Alles, was Ariſtoteles, Plinius, Suetonius, Polemon, Adamantinus, Ga-
lenus, Trogus Conciliator, Albertus, Skotus, Maletius, Avizenna,
*) und noch viele andere vor ihm

geſchrie-
*) [Spaltenumbruch] Jch kenne die wenigſten dieſer Schriftſteller unmit-
telbar, und kann alſo kein Urtheil uͤber ſie faͤllen; doch,
[Spaltenumbruch] aus den Zitationen zu ſchließen, geſtehe ich aufrichtig,
daß ich nicht Luſt hatte, ſie ſelbſt alle durchzuleſen. Auch
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Phyſ. Fragm. IV Verſuch. N n n
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[465/0609] Ueber das Studium der Phyſiognomik. die keine Phyſiognomen ſind, und nicht zeichnen koͤnnen, ich weiß es, ſchreyen wider dieſe Manier; und ſie iſt und bleibt dennoch wie fuͤr den Zeichner, ſo fuͤr den Phyſiognomiſten die einzige, die alle Vorzuͤge der Leich- tigkeit, der Beſtimmtheit, der Deutlichkeit, der Lernbarkeit, und noch manche andere in ſich vereinigt. Le Bruͤns bekannte Paſſionen ſind allein ſchon hinlaͤnglicher Beweis von der Nuͤtzlichkeit dieſer Manier. 20. Die Oelgemaͤhlde ſind fuͤr den Phyſiognomiſten die brauchbarſten, wenn ſie vollkommen ſind; aber ſie ſind es ſo ſelten, und wenn ſie’s ſind, ſo koſtbar, daß koͤnigliche Schaͤtze zu einem guten Cabinette von ſolchen wuͤrden erfordert werden. Die unbrauchbarſten ſind die mit ſchwarzer Kreide. Jch mißrathe ſie ſo wohl als die kleinen Mignaturgemaͤhlde ſchlechterdings allen phyſiognomiſchen Zeichnern. Sie gewoͤhnen ſich dadurch an eine gewiſſe freye, mahleriſch ſeyn ſollende, aber aͤußerſt unbeſtimmte, mithin unwahre und unnatuͤrliche Manier. Um den phyſiognomiſchen Charakter eines Geſichtes rund, mahleriſch, kraͤftig und ſcharf beſtimmt zugleich aufs beſte zu zeichnen, habe ich bisher nichts gefunden, das dem engliſchen Bleyſtift, durch ſcharfe Pinſelſtriche vom feinſten Tuſche verſchaͤrft, gleich kaͤme, wenn naͤmlich das Zimmer von allen Seiten ganz dunkel, und die Oeff- nung zum einfallenden Lichte rund, nicht viel breiter als ein Fuß, und etwa drey bis vier Fuß hoͤher iſt, als der etwas ſeitwaͤrts ſtehende Kopf deſſen, der gezeichnet werden ſoll. Nach mannichfaltigen Verſuchen fand ich keine leichtere, mahleriſch ſchoͤnere, und zugleich charakteriſtiſchere Manier fuͤr alle Arten von Geſichtern, wie dieſe. Fuͤr einige Geſichter, glaube ich, waͤre das perpendikular herabfallende Licht eben ſo gut, aber nur fuͤr platte und zart gegliederte Geſichter, denn die Schatten der ſtark gegliederten wuͤrden zu viel bedecken. Jn vorbeſagter Lage waͤre es auch ſehr dienlich, ſich einer Camera obſcura zu bedienen, die den ſo erleuchteten Kopf etwa um drey Viertheile verkleinerte, nicht um unmittelbar durch zu zeichnen; denn dieß iſt der Bewegung wegen wohl un- moͤglich, ſondern um immer leichter Zeichnung und Wahrheit vergleichen zu koͤnnen. 21. Phyſiognomiſche Schriften, die ich rathen moͤchte? — wie gerne, wenn ich mit gutem Gewiſſen viel rathen koͤnnte! — Mein Rath an den jungen Phyſiognomiſten iſt: Setz einmal vierzehn Tage dazu aus, ſie alle zu durchlaufen. Exzerpire dir, auf weitere Nachforſchung hin, das Beſtimmte ihrer Behauptungen. Es iſt ſchon geſagt: wenn man zween oder drey geleſen hat, ſo hat man ziemlich alle geleſen. Porta aus den aͤl- tern, Peuſchel und Pernetty aus den neuern haben faſt alles geſammelt. Erſterer ſchlechtes, gutes, elendes, ſich ſelbſt widerſprechendes. Alles, was Ariſtoteles, Plinius, Suetonius, Polemon, Adamantinus, Ga- lenus, Trogus Conciliator, Albertus, Skotus, Maletius, Avizenna, *) und noch viele andere vor ihm geſchrie- *) Jch kenne die wenigſten dieſer Schriftſteller unmit- telbar, und kann alſo kein Urtheil uͤber ſie faͤllen; doch, aus den Zitationen zu ſchließen, geſtehe ich aufrichtig, daß ich nicht Luſt hatte, ſie ſelbſt alle durchzuleſen. Auch kenne Phyſ. Fragm. IV Verſuch. N n n

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 465. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/609>, abgerufen am 21.11.2024.