Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.Allerley dieß Werk Betreffendes. und nicht zu finden ist! Wie viele Hülfsmittel und Vorerkenntnisse bedarf's, die von einem einzigen Menschenkaum erwartet werden können! Wie bedarf jeder Theil des menschlichen Körpers ein eignes weitläuftiges Stu- dium! Wie wäre über jeden ein physiognomisches Buch zu schreiben! -- Und von mir -- was dürfte, was könnte man erwarten und mit Billigkeit fordern? von mir, dem dieß Studium immer Nebenbeschäfftigung und Erholung war? von mir, dem beym ersten Anfange und Fortgange dieses Werkes notorisch die Arbeit auf mannichfaltige, und zum Theil unerhörte Weise von Fremden und Einheimischen, Fernen und Nahen, bis zum Ekel erschwert werden sollte? Billige, oder nur nicht grausame Leser! setzt euch einen Moment in meine Lage, und urtheilt, was Keine andere Zeit meines Lebens war zu diesem Unternehmen bequem, als gerade diese. Entweder Gott im Himmel bete ich an, daß ich bin, wo ich bin, und daß er mich unterstützte, das zu leisten, Beschluß.
Allerley dieß Werk Betreffendes. und nicht zu finden iſt! Wie viele Huͤlfsmittel und Vorerkenntniſſe bedarf’s, die von einem einzigen Menſchenkaum erwartet werden koͤnnen! Wie bedarf jeder Theil des menſchlichen Koͤrpers ein eignes weitlaͤuftiges Stu- dium! Wie waͤre uͤber jeden ein phyſiognomiſches Buch zu ſchreiben! — Und von mir — was duͤrfte, was koͤnnte man erwarten und mit Billigkeit fordern? von mir, dem dieß Studium immer Nebenbeſchaͤfftigung und Erholung war? von mir, dem beym erſten Anfange und Fortgange dieſes Werkes notoriſch die Arbeit auf mannichfaltige, und zum Theil unerhoͤrte Weiſe von Fremden und Einheimiſchen, Fernen und Nahen, bis zum Ekel erſchwert werden ſollte? Billige, oder nur nicht grauſame Leſer! ſetzt euch einen Moment in meine Lage, und urtheilt, was Keine andere Zeit meines Lebens war zu dieſem Unternehmen bequem, als gerade dieſe. Entweder Gott im Himmel bete ich an, daß ich bin, wo ich bin, und daß er mich unterſtuͤtzte, das zu leiſten, Beſchluß.
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Allerley dieß Werk Betreffendes.
und nicht zu finden iſt! Wie viele Huͤlfsmittel und Vorerkenntniſſe bedarf’s, die von einem einzigen Menſchen
kaum erwartet werden koͤnnen! Wie bedarf jeder Theil des menſchlichen Koͤrpers ein eignes weitlaͤuftiges Stu-
dium! Wie waͤre uͤber jeden ein phyſiognomiſches Buch zu ſchreiben! — Und von mir — was duͤrfte, was
koͤnnte man erwarten und mit Billigkeit fordern? von mir, dem dieß Studium immer Nebenbeſchaͤfftigung
und Erholung war? von mir, dem beym erſten Anfange und Fortgange dieſes Werkes notoriſch die Arbeit
auf mannichfaltige, und zum Theil unerhoͤrte Weiſe von Fremden und Einheimiſchen, Fernen und Nahen,
bis zum Ekel erſchwert werden ſollte?
Billige, oder nur nicht grauſame Leſer! ſetzt euch einen Moment in meine Lage, und urtheilt, was
ich leiſten konnte! Urtheilt, ob ich in dieſer Zeit mehr leiſten, oder mehr Zeit auf dieß Werk wenden konnte?
Urtheilt, welche Frage vernuͤnftiger iſt — Hat der Verfaſſer lang oder kurz an ſeiner Schrift gearbeitet?
Oder: „Hat er wahr und gut geſchrieben?“
Keine andere Zeit meines Lebens war zu dieſem Unternehmen bequem, als gerade dieſe. Entweder
mußte ich nichts ſchreiben, oder es mußten Fragmente ſeyn. Das, und mehr nicht, habe ich verſprochen —
und wie — war ein vollkommener Plan moͤglich? Vors erſte, von wie vielen Haͤnden und Zufaͤllen hieng die
Verfertigung und der Fortgang dieſes Werkes ab? Jtzt war eine Tafel beſtellt, verſprochen, erwartet. Vor-
aus konnte der Text nicht gemacht werden. Sie kam, oder kam ſpaͤter, oder kam nicht zur beſtimmten Zeit,
oder ſie war unbrauchbar. Sie mußte alſo verſchoben werden. Ferner — kein Tag, wenigſtens keine Woche
vergieng, daß ich nicht neue Beobachtungen machte; — ſollte ich dieſe zuruͤckbehalten? ... Oeffentliche und be-
ſondere Aufſaͤtze erſchienen waͤhrend der Verfertigung dieſes Werkes, die ſehr wahrſcheinlich ohne daſſelbe nie
zum Vorſchein gekommen waͤren. — Sollte ich dieſelben nicht benutzen? Seltſam — uͤberhaupt, daß jeder
muͤßige Kopf, der den ganzen Tag zuſieht, wie andere bauen, ſich berechtigt haͤlt, dem, der nach ſeinem beſten Ver-
moͤgen Steine bricht, haut, zuſchleppt, zuſammenreiht — und nie ein Gebaͤude aufzufuͤhren ſich weder aͤußerte,
noch in den Sinn kommen ließ, unaufhoͤrlich zuzurufen: — Warum baut ihr nicht ſo fort ein vollkomme-
nes, durchaus bewohnbares Haus? Man hat gut rufen, wenn man keinen Stein regen will; und gut ſa-
gen: Was nuͤtzen Fragmente? — wenn man ........
Gott im Himmel bete ich an, daß ich bin, wo ich bin, und daß er mich unterſtuͤtzte, das zu leiſten,
was ich geleiſtet habe! Gott im Himmel will ich anbeten, wenn einem andern ſo viel mehr gegeben wird, daß
dieß Werk als nonexiſtent angeſehen werden kann. Jch weiß, und Gott weiß, daß ich keinen Schriftſteller be-
neiden werde, den Wahrheitsliebe begeiſtern wird — dieſe Fragmente durch ein vollkommeners Werk zu ver-
nichtigen.
Beſchluß.
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