Alle Stümperey in allen Kunstwerken, Geistesprodukten, moralischen Handlungen, und alle Stümperey in Beurtheilung dieses alles rührt einzig und allein von dem Mangel dieser Erkennt- niß und dieses Gefühls her. Alle Zweifeley, aller Unglaube, alle Religionsspötterey kömmt daher. Wer dieß Gefühl hat, muß an Gott und an Christus glauben; muß in dem, was wir Natur -- und in dem, was wir Offenbarung oder Gnade nennen, muß in Christus, muß in den Aposteln Christi, muß in ihren Schriften -- gerade so, wie in jeglicher Menschengestalt -- diesen Einen alles durchwebenden einfachen Geist erkennen und fühlen -- und dieselbe Unmöglichkeit des ruhi- gen oder stürmischen Zusammenflickens. Ueber alle Zweifel gegen die Gottheit und gegen Christus hinaus fliegt der, der diesen Sinn hat, und diese Homogenität erkennt -- und über alle Zweifel ge- gen die Wahrheit und Göttlichkeit der Menschenphysiognomie fliegt der hinaus, der diese Homo- genität in der Menschengestalt durch und durch erkennt, und auf den ersten Blick fühlt -- und fühlt den einzig vom Mangel dieser Homogenität herrührenden großen Abstand aller Kunstwerke -- von den Naturwerken. --
Mit diesem Sinne, diesem Gefühle, oder wie ihrs nennen wollt, werdet ihr jeder Phy- siognomie nur das, und nichts anders geben, als was sie fassen mag; werdet ihr auf jede nach ihrer Art wirken; werdet ihr einem Charakter so wenig heterogenes aufzuflicken suchen, als eine fremde Nase einem Gesichte. Jhr werdet nur entwickeln, wie die Natur entwickelt; nur geben, was die Na- tur empfangen kann; nur wegschneiden, was die Natur auszustoßen scheint. Jhr werdet's an eurem Kinde, eurem Zöglinge, eurem Freunde, eurer Gattinn sogleich bemerken, wenn ein Zug aus seiner Harmonie heraus tritt -- und bloß durch Wirkung auf die Harmonie, die noch vorhanden ist; durch gute Stimmung der noch unverdorbenen Capitalkräfte -- die ursprüngliche Homogenität, das Gleichgewicht der Züge und der Triebe wieder herzustellen suchen. -- Jhr werdet überhaupt jede Sünde, jedes Laster als eine Störung dieser Harmonie erkennen, und empfinden, wie sehr jede Ab- weichung von der Wahrheit in eurer Gestalt, wenigstens für schärfere Augen, als die menschlichen sind, offenbar werden, euch mißbilden, euch eurem Urheber mißfällig -- euch seinem Ebenbilde un- ähnlicher machen muß. -- Und wer wird richtiger, wer billiger von den Thaten und Arbeiten der Menschen urtheilen können? -- wer weniger beleidigen und beleidigt werden? wer mehr alles er- klären können -- als der Physiognomist voll dieser Erkenntniß und dieses Gefühls ...
Erste
I. Abſchnitt. III. Fragment.
Alle Stuͤmperey in allen Kunſtwerken, Geiſtesprodukten, moraliſchen Handlungen, und alle Stuͤmperey in Beurtheilung dieſes alles ruͤhrt einzig und allein von dem Mangel dieſer Erkennt- niß und dieſes Gefuͤhls her. Alle Zweifeley, aller Unglaube, alle Religionsſpoͤtterey koͤmmt daher. Wer dieß Gefuͤhl hat, muß an Gott und an Chriſtus glauben; muß in dem, was wir Natur — und in dem, was wir Offenbarung oder Gnade nennen, muß in Chriſtus, muß in den Apoſteln Chriſti, muß in ihren Schriften — gerade ſo, wie in jeglicher Menſchengeſtalt — dieſen Einen alles durchwebenden einfachen Geiſt erkennen und fuͤhlen — und dieſelbe Unmoͤglichkeit des ruhi- gen oder ſtuͤrmiſchen Zuſammenflickens. Ueber alle Zweifel gegen die Gottheit und gegen Chriſtus hinaus fliegt der, der dieſen Sinn hat, und dieſe Homogenitaͤt erkennt — und uͤber alle Zweifel ge- gen die Wahrheit und Goͤttlichkeit der Menſchenphyſiognomie fliegt der hinaus, der dieſe Homo- genitaͤt in der Menſchengeſtalt durch und durch erkennt, und auf den erſten Blick fuͤhlt — und fuͤhlt den einzig vom Mangel dieſer Homogenitaͤt herruͤhrenden großen Abſtand aller Kunſtwerke — von den Naturwerken. —
Mit dieſem Sinne, dieſem Gefuͤhle, oder wie ihrs nennen wollt, werdet ihr jeder Phy- ſiognomie nur das, und nichts anders geben, als was ſie faſſen mag; werdet ihr auf jede nach ihrer Art wirken; werdet ihr einem Charakter ſo wenig heterogenes aufzuflicken ſuchen, als eine fremde Naſe einem Geſichte. Jhr werdet nur entwickeln, wie die Natur entwickelt; nur geben, was die Na- tur empfangen kann; nur wegſchneiden, was die Natur auszuſtoßen ſcheint. Jhr werdet’s an eurem Kinde, eurem Zoͤglinge, eurem Freunde, eurer Gattinn ſogleich bemerken, wenn ein Zug aus ſeiner Harmonie heraus tritt — und bloß durch Wirkung auf die Harmonie, die noch vorhanden iſt; durch gute Stimmung der noch unverdorbenen Capitalkraͤfte — die urſpruͤngliche Homogenitaͤt, das Gleichgewicht der Zuͤge und der Triebe wieder herzuſtellen ſuchen. — Jhr werdet uͤberhaupt jede Suͤnde, jedes Laſter als eine Stoͤrung dieſer Harmonie erkennen, und empfinden, wie ſehr jede Ab- weichung von der Wahrheit in eurer Geſtalt, wenigſtens fuͤr ſchaͤrfere Augen, als die menſchlichen ſind, offenbar werden, euch mißbilden, euch eurem Urheber mißfaͤllig — euch ſeinem Ebenbilde un- aͤhnlicher machen muß. — Und wer wird richtiger, wer billiger von den Thaten und Arbeiten der Menſchen urtheilen koͤnnen? — wer weniger beleidigen und beleidigt werden? wer mehr alles er- klaͤren koͤnnen — als der Phyſiognomiſt voll dieſer Erkenntniß und dieſes Gefuͤhls ...
Erſte
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I. Abſchnitt. III. Fragment.
Alle Stuͤmperey in allen Kunſtwerken, Geiſtesprodukten, moraliſchen Handlungen, und
alle Stuͤmperey in Beurtheilung dieſes alles ruͤhrt einzig und allein von dem Mangel dieſer Erkennt-
niß und dieſes Gefuͤhls her. Alle Zweifeley, aller Unglaube, alle Religionsſpoͤtterey koͤmmt daher.
Wer dieß Gefuͤhl hat, muß an Gott und an Chriſtus glauben; muß in dem, was wir Natur —
und in dem, was wir Offenbarung oder Gnade nennen, muß in Chriſtus, muß in den Apoſteln
Chriſti, muß in ihren Schriften — gerade ſo, wie in jeglicher Menſchengeſtalt — dieſen Einen
alles durchwebenden einfachen Geiſt erkennen und fuͤhlen — und dieſelbe Unmoͤglichkeit des ruhi-
gen oder ſtuͤrmiſchen Zuſammenflickens. Ueber alle Zweifel gegen die Gottheit und gegen Chriſtus
hinaus fliegt der, der dieſen Sinn hat, und dieſe Homogenitaͤt erkennt — und uͤber alle Zweifel ge-
gen die Wahrheit und Goͤttlichkeit der Menſchenphyſiognomie fliegt der hinaus, der dieſe Homo-
genitaͤt in der Menſchengeſtalt durch und durch erkennt, und auf den erſten Blick fuͤhlt — und fuͤhlt
den einzig vom Mangel dieſer Homogenitaͤt herruͤhrenden großen Abſtand aller Kunſtwerke — von
den Naturwerken. —
Mit dieſem Sinne, dieſem Gefuͤhle, oder wie ihrs nennen wollt, werdet ihr jeder Phy-
ſiognomie nur das, und nichts anders geben, als was ſie faſſen mag; werdet ihr auf jede nach ihrer
Art wirken; werdet ihr einem Charakter ſo wenig heterogenes aufzuflicken ſuchen, als eine fremde
Naſe einem Geſichte. Jhr werdet nur entwickeln, wie die Natur entwickelt; nur geben, was die Na-
tur empfangen kann; nur wegſchneiden, was die Natur auszuſtoßen ſcheint. Jhr werdet’s an eurem
Kinde, eurem Zoͤglinge, eurem Freunde, eurer Gattinn ſogleich bemerken, wenn ein Zug aus ſeiner
Harmonie heraus tritt — und bloß durch Wirkung auf die Harmonie, die noch vorhanden iſt;
durch gute Stimmung der noch unverdorbenen Capitalkraͤfte — die urſpruͤngliche Homogenitaͤt, das
Gleichgewicht der Zuͤge und der Triebe wieder herzuſtellen ſuchen. — Jhr werdet uͤberhaupt jede
Suͤnde, jedes Laſter als eine Stoͤrung dieſer Harmonie erkennen, und empfinden, wie ſehr jede Ab-
weichung von der Wahrheit in eurer Geſtalt, wenigſtens fuͤr ſchaͤrfere Augen, als die menſchlichen
ſind, offenbar werden, euch mißbilden, euch eurem Urheber mißfaͤllig — euch ſeinem Ebenbilde un-
aͤhnlicher machen muß. — Und wer wird richtiger, wer billiger von den Thaten und Arbeiten der
Menſchen urtheilen koͤnnen? — wer weniger beleidigen und beleidigt werden? wer mehr alles er-
klaͤren koͤnnen — als der Phyſiognomiſt voll dieſer Erkenntniß und dieſes Gefuͤhls ...
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/68>, abgerufen am 24.11.2024.
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