Hundertfache Erfahrung meines kurzen Lebens hat mich zwar beynahe zu dem festen Entschlusse gebracht, ohne den dringendsten Beruf an keinen Menschen zu schreiben, den ich nicht persönlich kenne. -- Die allerrichtigsten Beschrei- bungen sind doch immer höchstens nur Silhouetten -- und wann? wann? reine unverschnittne Silhouetten vom menschlichen Charakter! Die gerühmte- sten Menschen und Fürsten sind -- O wie ganz anders, wenn sie nahe gese- hen, als wenn sie ferne beschrieben werden! Mein Mißtrauen in alle Be- schreibungen ist beynah' auf eben den hohen Grad gestiegen, als mein Glaube an das Schauen -- und dennoch, edles Fürstenpaar! wag' ich es, Jhnen, die ich nie persönlich zu sehen das Glück hatte -- den IV. und letzten Band dieser Fragmente mit einer öffentlichen Zuschrift zuzusenden -- Fern von aller Besorgniß irgend einer Mißdeutung; voll der überlegtesten Sicherheit, daß Fürstliche Personen, die so sehr Menschen zu seyn sich bemühen -- an einem Werke, das die Menschheit so sehr nahe angeht, einiges Vergnü- gen finden werden .. voll des mir so süßen Gedankens: daß ein Fürstenpaar welches seit Langem gewohnt war, häusliche Glückseligkeit und stillen friedli- chen Genuß Jhrer Selbst allen Freuden vorzuziehen, die nur glänzende Namen und kein Wesen haben; -- seit Langem gewohnt war, sich wechselsweise zu ermuntern und vorzuleuchten, rein und gut -- zu seyn, und alles um sich her rein und gut zu wünschen, -- und Jnteresse nur das zu nennen, was den Menschen wahrhaft beruhigt und ihm innerlich wohl macht -- daß ein solches Fürstenpaar, das nicht bloß allgemeiner Ruf, nicht bloß die bestimmtesten Erzäh-
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Hundertfache Erfahrung meines kurzen Lebens hat mich zwar beynahe zu dem feſten Entſchluſſe gebracht, ohne den dringendſten Beruf an keinen Menſchen zu ſchreiben, den ich nicht perſoͤnlich kenne. — Die allerrichtigſten Beſchrei- bungen ſind doch immer hoͤchſtens nur Silhouetten — und wann? wann? reine unverſchnittne Silhouetten vom menſchlichen Charakter! Die geruͤhmte- ſten Menſchen und Fuͤrſten ſind — O wie ganz anders, wenn ſie nahe geſe- hen, als wenn ſie ferne beſchrieben werden! Mein Mißtrauen in alle Be- ſchreibungen iſt beynah’ auf eben den hohen Grad geſtiegen, als mein Glaube an das Schauen — und dennoch, edles Fuͤrſtenpaar! wag’ ich es, Jhnen, die ich nie perſoͤnlich zu ſehen das Gluͤck hatte — den IV. und letzten Band dieſer Fragmente mit einer oͤffentlichen Zuſchrift zuzuſenden — Fern von aller Beſorgniß irgend einer Mißdeutung; voll der uͤberlegteſten Sicherheit, daß Fuͤrſtliche Perſonen, die ſo ſehr Menſchen zu ſeyn ſich bemuͤhen — an einem Werke, das die Menſchheit ſo ſehr nahe angeht, einiges Vergnuͤ- gen finden werden .. voll des mir ſo ſuͤßen Gedankens: daß ein Fuͤrſtenpaar welches ſeit Langem gewohnt war, haͤusliche Gluͤckſeligkeit und ſtillen friedli- chen Genuß Jhrer Selbſt allen Freuden vorzuziehen, die nur glaͤnzende Namen und kein Weſen haben; — ſeit Langem gewohnt war, ſich wechſelsweiſe zu ermuntern und vorzuleuchten, rein und gut — zu ſeyn, und alles um ſich her rein und gut zu wuͤnſchen, — und Jntereſſe nur das zu nennen, was den Menſchen wahrhaft beruhigt und ihm innerlich wohl macht — daß ein ſolches Fuͤrſtenpaar, das nicht bloß allgemeiner Ruf, nicht bloß die beſtimmteſten Erzaͤh-
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Hundertfache Erfahrung meines kurzen Lebens hat mich zwar beynahe zu dem
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zu ſchreiben, den ich nicht perſoͤnlich kenne. — Die allerrichtigſten Beſchrei-
bungen ſind doch immer hoͤchſtens nur Silhouetten — und wann? wann?
reine unverſchnittne Silhouetten vom menſchlichen Charakter! Die geruͤhmte-
ſten Menſchen und Fuͤrſten ſind — O wie ganz anders, wenn ſie nahe geſe-
hen, als wenn ſie ferne beſchrieben werden! Mein Mißtrauen in alle Be-
ſchreibungen iſt beynah’ auf eben den hohen Grad geſtiegen, als mein Glaube
an das Schauen — und dennoch, edles Fuͤrſtenpaar! wag’ ich es, Jhnen,
die ich nie perſoͤnlich zu ſehen das Gluͤck hatte — den IV. und letzten Band
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daß Fuͤrſtliche Perſonen, die ſo ſehr Menſchen zu ſeyn ſich bemuͤhen — an
einem Werke, das die Menſchheit ſo ſehr nahe angeht, einiges Vergnuͤ-
gen finden werden .. voll des mir ſo ſuͤßen Gedankens: daß ein Fuͤrſtenpaar
welches ſeit Langem gewohnt war, haͤusliche Gluͤckſeligkeit und ſtillen friedli-
chen Genuß Jhrer Selbſt allen Freuden vorzuziehen, die nur glaͤnzende Namen
und kein Weſen haben; — ſeit Langem gewohnt war, ſich wechſelsweiſe zu
ermuntern und vorzuleuchten, rein und gut — zu ſeyn, und alles um ſich
her rein und gut zu wuͤnſchen, — und Jntereſſe nur das zu nennen, was den
Menſchen wahrhaft beruhigt und ihm innerlich wohl macht — daß ein ſolches
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. [V]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/9>, abgerufen am 21.11.2024.
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