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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Hundertfache Erfahrung meines kurzen Lebens hat mich zwar beynahe zu dem
festen Entschlusse gebracht, ohne den dringendsten Beruf an keinen Menschen
zu schreiben, den ich nicht persönlich kenne. -- Die allerrichtigsten Beschrei-
bungen sind doch immer höchstens nur Silhouetten -- und wann? wann?
reine unverschnittne Silhouetten vom menschlichen Charakter! Die gerühmte-
sten Menschen und Fürsten sind -- O wie ganz anders, wenn sie nahe gese-
hen, als wenn sie ferne beschrieben werden! Mein Mißtrauen in alle Be-
schreibungen ist beynah' auf eben den hohen Grad gestiegen, als mein Glaube
an das Schauen -- und dennoch, edles Fürstenpaar! wag' ich es, Jhnen,
die ich nie persönlich zu sehen das Glück hatte -- den IV. und letzten Band
dieser Fragmente mit einer öffentlichen Zuschrift zuzusenden -- Fern von
aller Besorgniß irgend einer Mißdeutung; voll der überlegtesten Sicherheit,
daß Fürstliche Personen, die so sehr Menschen zu seyn sich bemühen -- an
einem Werke, das die Menschheit so sehr nahe angeht, einiges Vergnü-
gen finden werden .. voll des mir so süßen Gedankens: daß ein Fürstenpaar
welches seit Langem gewohnt war, häusliche Glückseligkeit und stillen friedli-
chen Genuß Jhrer Selbst allen Freuden vorzuziehen, die nur glänzende Namen
und kein Wesen haben; -- seit Langem gewohnt war, sich wechselsweise zu
ermuntern und vorzuleuchten, rein und gut -- zu seyn, und alles um sich
her rein und gut zu wünschen, -- und Jnteresse nur das zu nennen, was den
Menschen wahrhaft beruhigt und ihm innerlich wohl macht -- daß ein solches
Fürstenpaar, das nicht bloß allgemeiner Ruf, nicht bloß die bestimmtesten Erzäh-

lungen
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Hundertfache Erfahrung meines kurzen Lebens hat mich zwar beynahe zu dem
feſten Entſchluſſe gebracht, ohne den dringendſten Beruf an keinen Menſchen
zu ſchreiben, den ich nicht perſoͤnlich kenne. — Die allerrichtigſten Beſchrei-
bungen ſind doch immer hoͤchſtens nur Silhouetten — und wann? wann?
reine unverſchnittne Silhouetten vom menſchlichen Charakter! Die geruͤhmte-
ſten Menſchen und Fuͤrſten ſind — O wie ganz anders, wenn ſie nahe geſe-
hen, als wenn ſie ferne beſchrieben werden! Mein Mißtrauen in alle Be-
ſchreibungen iſt beynah’ auf eben den hohen Grad geſtiegen, als mein Glaube
an das Schauen — und dennoch, edles Fuͤrſtenpaar! wag’ ich es, Jhnen,
die ich nie perſoͤnlich zu ſehen das Gluͤck hatte — den IV. und letzten Band
dieſer Fragmente mit einer oͤffentlichen Zuſchrift zuzuſenden — Fern von
aller Beſorgniß irgend einer Mißdeutung; voll der uͤberlegteſten Sicherheit,
daß Fuͤrſtliche Perſonen, die ſo ſehr Menſchen zu ſeyn ſich bemuͤhen — an
einem Werke, das die Menſchheit ſo ſehr nahe angeht, einiges Vergnuͤ-
gen finden werden .. voll des mir ſo ſuͤßen Gedankens: daß ein Fuͤrſtenpaar
welches ſeit Langem gewohnt war, haͤusliche Gluͤckſeligkeit und ſtillen friedli-
chen Genuß Jhrer Selbſt allen Freuden vorzuziehen, die nur glaͤnzende Namen
und kein Weſen haben; — ſeit Langem gewohnt war, ſich wechſelsweiſe zu
ermuntern und vorzuleuchten, rein und gut — zu ſeyn, und alles um ſich
her rein und gut zu wuͤnſchen, — und Jntereſſe nur das zu nennen, was den
Menſchen wahrhaft beruhigt und ihm innerlich wohl macht — daß ein ſolches
Fuͤrſtenpaar, das nicht bloß allgemeiner Ruf, nicht bloß die beſtimmteſten Erzaͤh-

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. [V]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/9>, abgerufen am 21.11.2024.