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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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I. Abschnitt. VI. Fragment. Einfluß der Einbildungskraft
Sechstes Fragment.
Ein Wort über den Einfluß der Einbildungskraft auf unsre
eigne und andere Physiognomien.

Ja wohl nur Ein Wort -- wo vermuthlich Bände geschrieben werden könnten. Jch habe weder
Zeit, noch Einsicht, noch Beruf, etwas vollkommeners hierüber zu schreiben. Doch darf ich das Ca-
pitel wenigstens nicht unberührt lassen. Das wenige, das nichts, was ich hierüber zu sagen habe, soll
nur Veranlassung seyn, weiter über diese tiefeingreifende Sache nachzudenken.

Die Einbildungskraft wirkt auf unsre eigne Physiognomie. Sie verähnlichet unsere Phy-
siognomie einigermaßen dem geliebten oder gehaßten Bilde, das uns lebendig, als nahe gegenwärtig
vorschwebt; und in den Kreiß unserer unmittelbaren Wirksamkeit gehöret. -- Jn dem Gesichte ei-
nes Verliebten, der sich seinen geliebten Gegenstand nahe schafft, und dem Bilde vielleicht noch mehr
von seinen eignen Farben leiht, als dem wirklich gegenwärtigen -- würde, wenigstens wenn er kei-
nen Beobachter vermuthete, sehr wahrscheinlich ein geübtes feines Auge Züge von dem Geliebten le-
sen können. So lassen sich in den grimmigen Zügen eines, der auf Rache denket, die Züge seines
Feindes lesen, den er vor seiner Einbildungskraft hat, und unser Gesicht scheint ein Tableau zu seyn
von den charakteristischen Zügen aller Dinge, die wir sehr lieben, oder sehr hassen; und schon ein
stumpferes Auge, als das eines Engels, kann vielleicht im Gesichte des wahrhaft andächtigen -- ein
Bild seines Gottes lesen. Der ganz nach Christusnähe hinauf schmachtende, je lebhafter, je näher,
je bestimmter, je übermenschlicher -- er Christus im Bilde sich selbst darzustellen Trieb und Kraft
hat -- muß gewiß etwas ähnliches mit diesem Bilde in seinen feinern Gesichtszügen haben. Lebhaf-
tes Bild wirkt oft mehr, als die Gegenwart selbst. Wir können uns oft leichter ans Bild heften,
und gleichsam mehr mit dem Bilde identifiziren, als mit dem geliebtesten Gegenstande ... und wer
Jhn, von dem wir eben sprachen, den großen Jhn selbst einmal im schnellesten Vorbeygange gesehen
hätte -- wie unaufhörlich würde die Einbildungskraft dieß Bild in seinen Gesichtszügen reproduziren!

Aber unsere Einbildungskraft wirkt auch auf andere Physiognomien. Der Mut-
ter Einbildungskraft wirkt aufs Kind. -- Daher man schon längst darauf bedacht war, schöne Kin-
der in sich hinein zu imaginiren. Allein -- da hilft, glaube ich, nicht so wohl das Herumhängen schö-

ner
I. Abſchnitt. VI. Fragment. Einfluß der Einbildungskraft
Sechstes Fragment.
Ein Wort uͤber den Einfluß der Einbildungskraft auf unſre
eigne und andere Phyſiognomien.

Ja wohl nur Ein Wort — wo vermuthlich Baͤnde geſchrieben werden koͤnnten. Jch habe weder
Zeit, noch Einſicht, noch Beruf, etwas vollkommeners hieruͤber zu ſchreiben. Doch darf ich das Ca-
pitel wenigſtens nicht unberuͤhrt laſſen. Das wenige, das nichts, was ich hieruͤber zu ſagen habe, ſoll
nur Veranlaſſung ſeyn, weiter uͤber dieſe tiefeingreifende Sache nachzudenken.

Die Einbildungskraft wirkt auf unſre eigne Phyſiognomie. Sie veraͤhnlichet unſere Phy-
ſiognomie einigermaßen dem geliebten oder gehaßten Bilde, das uns lebendig, als nahe gegenwaͤrtig
vorſchwebt; und in den Kreiß unſerer unmittelbaren Wirkſamkeit gehoͤret. — Jn dem Geſichte ei-
nes Verliebten, der ſich ſeinen geliebten Gegenſtand nahe ſchafft, und dem Bilde vielleicht noch mehr
von ſeinen eignen Farben leiht, als dem wirklich gegenwaͤrtigen — wuͤrde, wenigſtens wenn er kei-
nen Beobachter vermuthete, ſehr wahrſcheinlich ein geuͤbtes feines Auge Zuͤge von dem Geliebten le-
ſen koͤnnen. So laſſen ſich in den grimmigen Zuͤgen eines, der auf Rache denket, die Zuͤge ſeines
Feindes leſen, den er vor ſeiner Einbildungskraft hat, und unſer Geſicht ſcheint ein Tableau zu ſeyn
von den charakteriſtiſchen Zuͤgen aller Dinge, die wir ſehr lieben, oder ſehr haſſen; und ſchon ein
ſtumpferes Auge, als das eines Engels, kann vielleicht im Geſichte des wahrhaft andaͤchtigen — ein
Bild ſeines Gottes leſen. Der ganz nach Chriſtusnaͤhe hinauf ſchmachtende, je lebhafter, je naͤher,
je beſtimmter, je uͤbermenſchlicher — er Chriſtus im Bilde ſich ſelbſt darzuſtellen Trieb und Kraft
hat — muß gewiß etwas aͤhnliches mit dieſem Bilde in ſeinen feinern Geſichtszuͤgen haben. Lebhaf-
tes Bild wirkt oft mehr, als die Gegenwart ſelbſt. Wir koͤnnen uns oft leichter ans Bild heften,
und gleichſam mehr mit dem Bilde identifiziren, als mit dem geliebteſten Gegenſtande ... und wer
Jhn, von dem wir eben ſprachen, den großen Jhn ſelbſt einmal im ſchnelleſten Vorbeygange geſehen
haͤtte — wie unaufhoͤrlich wuͤrde die Einbildungskraft dieß Bild in ſeinen Geſichtszuͤgen reproduziren!

Aber unſere Einbildungskraft wirkt auch auf andere Phyſiognomien. Der Mut-
ter Einbildungskraft wirkt aufs Kind. — Daher man ſchon laͤngſt darauf bedacht war, ſchoͤne Kin-
der in ſich hinein zu imaginiren. Allein — da hilft, glaube ich, nicht ſo wohl das Herumhaͤngen ſchoͤ-

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[64/0090] I. Abſchnitt. VI. Fragment. Einfluß der Einbildungskraft Sechstes Fragment. Ein Wort uͤber den Einfluß der Einbildungskraft auf unſre eigne und andere Phyſiognomien. Ja wohl nur Ein Wort — wo vermuthlich Baͤnde geſchrieben werden koͤnnten. Jch habe weder Zeit, noch Einſicht, noch Beruf, etwas vollkommeners hieruͤber zu ſchreiben. Doch darf ich das Ca- pitel wenigſtens nicht unberuͤhrt laſſen. Das wenige, das nichts, was ich hieruͤber zu ſagen habe, ſoll nur Veranlaſſung ſeyn, weiter uͤber dieſe tiefeingreifende Sache nachzudenken. Die Einbildungskraft wirkt auf unſre eigne Phyſiognomie. Sie veraͤhnlichet unſere Phy- ſiognomie einigermaßen dem geliebten oder gehaßten Bilde, das uns lebendig, als nahe gegenwaͤrtig vorſchwebt; und in den Kreiß unſerer unmittelbaren Wirkſamkeit gehoͤret. — Jn dem Geſichte ei- nes Verliebten, der ſich ſeinen geliebten Gegenſtand nahe ſchafft, und dem Bilde vielleicht noch mehr von ſeinen eignen Farben leiht, als dem wirklich gegenwaͤrtigen — wuͤrde, wenigſtens wenn er kei- nen Beobachter vermuthete, ſehr wahrſcheinlich ein geuͤbtes feines Auge Zuͤge von dem Geliebten le- ſen koͤnnen. So laſſen ſich in den grimmigen Zuͤgen eines, der auf Rache denket, die Zuͤge ſeines Feindes leſen, den er vor ſeiner Einbildungskraft hat, und unſer Geſicht ſcheint ein Tableau zu ſeyn von den charakteriſtiſchen Zuͤgen aller Dinge, die wir ſehr lieben, oder ſehr haſſen; und ſchon ein ſtumpferes Auge, als das eines Engels, kann vielleicht im Geſichte des wahrhaft andaͤchtigen — ein Bild ſeines Gottes leſen. Der ganz nach Chriſtusnaͤhe hinauf ſchmachtende, je lebhafter, je naͤher, je beſtimmter, je uͤbermenſchlicher — er Chriſtus im Bilde ſich ſelbſt darzuſtellen Trieb und Kraft hat — muß gewiß etwas aͤhnliches mit dieſem Bilde in ſeinen feinern Geſichtszuͤgen haben. Lebhaf- tes Bild wirkt oft mehr, als die Gegenwart ſelbſt. Wir koͤnnen uns oft leichter ans Bild heften, und gleichſam mehr mit dem Bilde identifiziren, als mit dem geliebteſten Gegenſtande ... und wer Jhn, von dem wir eben ſprachen, den großen Jhn ſelbſt einmal im ſchnelleſten Vorbeygange geſehen haͤtte — wie unaufhoͤrlich wuͤrde die Einbildungskraft dieß Bild in ſeinen Geſichtszuͤgen reproduziren! Aber unſere Einbildungskraft wirkt auch auf andere Phyſiognomien. Der Mut- ter Einbildungskraft wirkt aufs Kind. — Daher man ſchon laͤngſt darauf bedacht war, ſchoͤne Kin- der in ſich hinein zu imaginiren. Allein — da hilft, glaube ich, nicht ſo wohl das Herumhaͤngen ſchoͤ- ner

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/90>, abgerufen am 21.11.2024.