Lavater, Johann Caspar: Sammlung einiger Gebete auf die wichtigsten Angelegenheiten des menschlichen Lebens. Leipzig, 1778.durch deine Güte habe erleben können, du Herr und Laß mir die Flüchtigkeit, Kürze und Ungewißheit nicht
durch deine Güte habe erleben können, du Herr und Laß mir die Flüchtigkeit, Kürze und Ungewißheit nicht
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0040" n="38"/> durch deine Güte habe erleben können, du Herr und<lb/> Vater meines Lebens! Heute kann ich mich noch<lb/> mehr in der Reinigung meines Herzens, in der<lb/> Ausübung des Guten, und in einer weiſen Vorbe-<lb/> reitung auf die Ewigkeit üben... Wie? wenn<lb/> ich dieſe vergangene Nacht im Tode entſchlafen, wenn<lb/> ich dieſen Morgen in der Ewigkeit erwacht wäre?<lb/> wo wäre ich nun? Wie würde mir itzt zu Muthe<lb/> ſeyn? Dürfte ich mit gutem Grunde hoffen, Gna-<lb/> de zu finden vor dem Richterſtuhl Gottes? Dürfte<lb/> ich mich zu denen rechnen, die Chriſto angehören,<lb/> die nicht mehr ihnen ſelbſt leben, ſondern dem, der<lb/> für ſie geſtorben und auferweckt worden iſt? die das<lb/> Fleiſch ſammt den Anfechtungen und Lüſten gekreu-<lb/> ziat haben? — oder könnte ich das nicht nach der<lb/> Wahrheit von mir ſagen? Ach! ich weiß wohl, wie<lb/> viel mir noch fehlt, und daß ich gleichſam an einem<lb/> Abgrund eingeſchlafen bin! ... Ach! mein Gott!<lb/> wie gut iſt es für mich, daß ich noch den heutigen<lb/> Tag erlebt habe! Ich danke dir, ich bete deine<lb/> Güte an; — ich freue mich des Lebens; Jede<lb/> Stunde, jeder Augenblick ſoll mir aufs neue wichtig<lb/> ſeyn. ... Ich will eilen und nicht ſäumen, deine<lb/> Gebote zu halten; — O könnte ich heute alles das<lb/> nachholen und wieder einbringen, was ich dieſe<lb/> Woche Gutes zu lernen, zu denken und zu thun<lb/> verſäumet habe! Ach, Vater! gieb, daß doch auch<lb/> wenigſtens dieſer letzte Tag der Woche für mich nicht<lb/> verloren ſey! ...</p><lb/> <p>Laß mir die Flüchtigkeit, Kürze und Ungewißheit<lb/> des menſchlichen Lebens tief im Sinn liegen und<lb/> mich zu dem beſten Gebrauch meiner Zeit gleichſam<lb/> anſpornen, daß mir doch nichts ſo ſehr angelegen<lb/> ſey, als jede Stunde weislich zu nutzen, die du<lb/> mir gönneſt; weil ich von keiner weiß, ob ſie die<lb/> letzte iſt; und von einer jeden weiß, daß ſie ewig<lb/> <fw place="bottom" type="catch">nicht</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [38/0040]
durch deine Güte habe erleben können, du Herr und
Vater meines Lebens! Heute kann ich mich noch
mehr in der Reinigung meines Herzens, in der
Ausübung des Guten, und in einer weiſen Vorbe-
reitung auf die Ewigkeit üben... Wie? wenn
ich dieſe vergangene Nacht im Tode entſchlafen, wenn
ich dieſen Morgen in der Ewigkeit erwacht wäre?
wo wäre ich nun? Wie würde mir itzt zu Muthe
ſeyn? Dürfte ich mit gutem Grunde hoffen, Gna-
de zu finden vor dem Richterſtuhl Gottes? Dürfte
ich mich zu denen rechnen, die Chriſto angehören,
die nicht mehr ihnen ſelbſt leben, ſondern dem, der
für ſie geſtorben und auferweckt worden iſt? die das
Fleiſch ſammt den Anfechtungen und Lüſten gekreu-
ziat haben? — oder könnte ich das nicht nach der
Wahrheit von mir ſagen? Ach! ich weiß wohl, wie
viel mir noch fehlt, und daß ich gleichſam an einem
Abgrund eingeſchlafen bin! ... Ach! mein Gott!
wie gut iſt es für mich, daß ich noch den heutigen
Tag erlebt habe! Ich danke dir, ich bete deine
Güte an; — ich freue mich des Lebens; Jede
Stunde, jeder Augenblick ſoll mir aufs neue wichtig
ſeyn. ... Ich will eilen und nicht ſäumen, deine
Gebote zu halten; — O könnte ich heute alles das
nachholen und wieder einbringen, was ich dieſe
Woche Gutes zu lernen, zu denken und zu thun
verſäumet habe! Ach, Vater! gieb, daß doch auch
wenigſtens dieſer letzte Tag der Woche für mich nicht
verloren ſey! ...
Laß mir die Flüchtigkeit, Kürze und Ungewißheit
des menſchlichen Lebens tief im Sinn liegen und
mich zu dem beſten Gebrauch meiner Zeit gleichſam
anſpornen, daß mir doch nichts ſo ſehr angelegen
ſey, als jede Stunde weislich zu nutzen, die du
mir gönneſt; weil ich von keiner weiß, ob ſie die
letzte iſt; und von einer jeden weiß, daß ſie ewig
nicht
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