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Lavater, Johann Caspar: Sammlung einiger Gebete auf die wichtigsten Angelegenheiten des menschlichen Lebens. Leipzig, 1778.

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Sey heute, barmherziger Vater, mit deinem
augenscheinlichen Seegen bey mir, wie du es diese
ganze Woche warest! Laß mich heute noch das Ziel
der Tugend und Vollkommenheit erreichen, wohin
ich seit dem Anfang dieser Woche umsonst gestrebt
habe, oder doch unaufhörlich hätte streben sollen;
oder gieb doch wenigstens, daß ich an dem heutigen
Abend, wenn ich von meinen Herzen über die vergan-
gene Woche Rechnung fordere, nicht überall vor
mir selber und vor deinem Angesicht zu Schanden
werde, sondern auch ohne Irrthum und Selbstbetrug
erkennen und spüren möge, daß ich am Ende der Wo-
che ein besserer Christ sey, als am Anfang derselben;
daß ich mir weniger Vorwürfe zu machen habe, daß
ich mehr Gutes an mir wahrnehmen könne, als am
Ende der vorigen Woche.

Laß mir unter meinen heutigen Verrichtungen
alles das beyfallen und im Sinn liegen, was mich
in deiner Furcht und in der freudigen Ausübung der
Tugend ermuntern und erhalten kann! Laß meinem
Gemüthe vorschweben, die Bitten, die Seufzer, die
guten Entschliessungen, die Berenungen, die ich in-
sonderheit bey meinen Morgen- und Abendandachten
alle Tage dieser Welt dir dargebracht und geäus-
sert habe!

Möchten endlich meine Gedanken sich bisweilen
auch richten auf dein Grabmal o mein verherrlichter
Erlöser. An diesem Tag ruhtest du nach vielem Lei-
den endlich einmal auch. Möchte ich einst auch so
ruhig und mit so süßen Hoffnungen einer fröhlichen
und herrlichen Auferstehung entschlafen! Möchte ich
nicht in das Grab versinken, bis ich auch an meinem
Ort so viel Gutes gethan habe, daß ich mich mit
Freuden niederlegen, und die Verwesung nicht fürch-
ten darf! O Herr hilf mir zu diesem Glück durch dei-
nen allmächtigen Geist! Amen.

Abend-

Sey heute, barmherziger Vater, mit deinem
augenſcheinlichen Seegen bey mir, wie du es dieſe
ganze Woche wareſt! Laß mich heute noch das Ziel
der Tugend und Vollkommenheit erreichen, wohin
ich ſeit dem Anfang dieſer Woche umſonſt geſtrebt
habe, oder doch unaufhörlich hätte ſtreben ſollen;
oder gieb doch wenigſtens, daß ich an dem heutigen
Abend, wenn ich von meinen Herzen über die vergan-
gene Woche Rechnung fordere, nicht überall vor
mir ſelber und vor deinem Angeſicht zu Schanden
werde, ſondern auch ohne Irrthum und Selbſtbetrug
erkennen und ſpüren möge, daß ich am Ende der Wo-
che ein beſſerer Chriſt ſey, als am Anfang derſelben;
daß ich mir weniger Vorwürfe zu machen habe, daß
ich mehr Gutes an mir wahrnehmen könne, als am
Ende der vorigen Woche.

Laß mir unter meinen heutigen Verrichtungen
alles das beyfallen und im Sinn liegen, was mich
in deiner Furcht und in der freudigen Ausübung der
Tugend ermuntern und erhalten kann! Laß meinem
Gemüthe vorſchweben, die Bitten, die Seufzer, die
guten Entſchlieſſungen, die Berenungen, die ich in-
ſonderheit bey meinen Morgen- und Abendandachten
alle Tage dieſer Welt dir dargebracht und geäuſ-
ſert habe!

Möchten endlich meine Gedanken ſich bisweilen
auch richten auf dein Grabmal o mein verherrlichter
Erlöſer. An dieſem Tag ruhteſt du nach vielem Lei-
den endlich einmal auch. Möchte ich einſt auch ſo
ruhig und mit ſo ſüßen Hoffnungen einer fröhlichen
und herrlichen Auferſtehung entſchlafen! Möchte ich
nicht in das Grab verſinken, bis ich auch an meinem
Ort ſo viel Gutes gethan habe, daß ich mich mit
Freuden niederlegen, und die Verweſung nicht fürch-
ten darf! O Herr hilf mir zu dieſem Glück durch dei-
nen allmächtigen Geiſt! Amen.

Abend-
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[40/0042] Sey heute, barmherziger Vater, mit deinem augenſcheinlichen Seegen bey mir, wie du es dieſe ganze Woche wareſt! Laß mich heute noch das Ziel der Tugend und Vollkommenheit erreichen, wohin ich ſeit dem Anfang dieſer Woche umſonſt geſtrebt habe, oder doch unaufhörlich hätte ſtreben ſollen; oder gieb doch wenigſtens, daß ich an dem heutigen Abend, wenn ich von meinen Herzen über die vergan- gene Woche Rechnung fordere, nicht überall vor mir ſelber und vor deinem Angeſicht zu Schanden werde, ſondern auch ohne Irrthum und Selbſtbetrug erkennen und ſpüren möge, daß ich am Ende der Wo- che ein beſſerer Chriſt ſey, als am Anfang derſelben; daß ich mir weniger Vorwürfe zu machen habe, daß ich mehr Gutes an mir wahrnehmen könne, als am Ende der vorigen Woche. Laß mir unter meinen heutigen Verrichtungen alles das beyfallen und im Sinn liegen, was mich in deiner Furcht und in der freudigen Ausübung der Tugend ermuntern und erhalten kann! Laß meinem Gemüthe vorſchweben, die Bitten, die Seufzer, die guten Entſchlieſſungen, die Berenungen, die ich in- ſonderheit bey meinen Morgen- und Abendandachten alle Tage dieſer Welt dir dargebracht und geäuſ- ſert habe! Möchten endlich meine Gedanken ſich bisweilen auch richten auf dein Grabmal o mein verherrlichter Erlöſer. An dieſem Tag ruhteſt du nach vielem Lei- den endlich einmal auch. Möchte ich einſt auch ſo ruhig und mit ſo ſüßen Hoffnungen einer fröhlichen und herrlichen Auferſtehung entſchlafen! Möchte ich nicht in das Grab verſinken, bis ich auch an meinem Ort ſo viel Gutes gethan habe, daß ich mich mit Freuden niederlegen, und die Verweſung nicht fürch- ten darf! O Herr hilf mir zu dieſem Glück durch dei- nen allmächtigen Geiſt! Amen. Abend-

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Sammlung einiger Gebete auf die wichtigsten Angelegenheiten des menschlichen Lebens. Leipzig, 1778, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_sammlung_1778/42>, abgerufen am 03.12.2024.