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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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Eben die Einsicht in das künstlerische Wesen der Poesie, wie es sich ple_VI.002
in diesen Erscheinungen ausspricht, ist es, was die folgenden Untersuchungen ple_VI.003
anstreben. Sie wollen eine Kunstlehre bilden, freilich in tieferem Sinne als jene ple_VI.004
alten Anleitungen zur Dichtkunst, von denen im historischen Abschnitt die Rede ple_VI.005
sein wird. Indem ich von der Grundtatsache ausgehe, daß die Poesie das innere ple_VI.006
Erlebnis des Dichters durch die Sprache zum Erlebnis seiner Hörer und Leser ple_VI.007
machen will, suche ich ihre Mittel und Formen, ihre Richtungen und Gesetze in ple_VI.008
ihrer innerlichen Eigenart festzustellen und hierdurch ein Verständnis für das Ganze ple_VI.009
der Dichtkunst wie für ihre einzelnen Teilgebiete zu erschließen.

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Was hier in kurzen Zügen angedeutet ist, die Eigentümlichkeit und Tragweite ple_VI.011
der Aufgabe, die Schwierigkeiten, die sich ihr entgegenstellen und die Fernsichten, ple_VI.012
die sich ihr eröffnen, ist in dem ersten, grundlegenden Teil des Buches eingehend ple_VI.013
dargelegt; ich verweise besonders auf das fünfte Kapitel, das die positiven Gesichtspunkte ple_VI.014
für die folgenden Abschnitte zusammenfassend zur Darstellung bringt. ple_VI.015
Es ergibt sich dort als notwendig, zunächst die Formenelemente der Poesie zu ple_VI.016
betrachten und von da aus zu den Gattungen fortzuschreiten, welche als Besonderungen ple_VI.017
der Form aus ihnen hervorgehen. Von diesen Betrachtungen formal ple_VI.018
ästhetischer Natur aber ist die Erörterung der allgemeinen künstlerischen und sittlichen ple_VI.019
Richtungen zu trennen, die den Gefühlsgehalt und die Anschauungsweise ple_VI.020
dichterischer Werke bestimmen. Es gehörte zu den Irrtümern der alten ple_VI.021
Poetik, daß sie inhaltliche und formale Gesichtspunkte vermengte und die einen ple_VI.022
aus den anderen glaubte ableiten zu können. So behandelte sie z. B. das ple_VI.023
Tragische als ein Teilgebiet des Dramatischen, oder sie suchte umgekehrt die ple_VI.024
Formengesetze der Tragödie, statt aus dem Wesen der dramatischen Gattung, ple_VI.025
vielmehr aus dem Begriff des Tragischen zu gewinnen. Demgegenüber hat die ple_VI.026
moderne Ästhetik mit Recht den organischen Zusammenhang der dichterischen ple_VI.027
und überhaupt künstlerischen Formenprinzipien schärfer betont. Übergehen durfte ple_VI.028
ich freilich auch jene inhaltlichen Richtungen nicht, wenn ich nicht in die Einseitigkeit ple_VI.029
verfallen wollte, die Poesie als eine reine Formenkunst zu behandeln; ple_VI.030
sie verlangten vielmehr eine gesonderte Betrachtung und Würdigung. Einer solchen ple_VI.031
ist der vierte und letzte Teil des Buches gewidmet; denn erst hiermit schließt sich ple_VI.032
die Poetik zu einem umfassenden Ganzen zusammen.

ple_VI.033
Posen, im Januar 1908.

ple_VI.034

Rudolf Lehmann.

ple_VI.001
Eben die Einsicht in das künstlerische Wesen der Poesie, wie es sich ple_VI.002
in diesen Erscheinungen ausspricht, ist es, was die folgenden Untersuchungen ple_VI.003
anstreben. Sie wollen eine Kunstlehre bilden, freilich in tieferem Sinne als jene ple_VI.004
alten Anleitungen zur Dichtkunst, von denen im historischen Abschnitt die Rede ple_VI.005
sein wird. Indem ich von der Grundtatsache ausgehe, daß die Poesie das innere ple_VI.006
Erlebnis des Dichters durch die Sprache zum Erlebnis seiner Hörer und Leser ple_VI.007
machen will, suche ich ihre Mittel und Formen, ihre Richtungen und Gesetze in ple_VI.008
ihrer innerlichen Eigenart festzustellen und hierdurch ein Verständnis für das Ganze ple_VI.009
der Dichtkunst wie für ihre einzelnen Teilgebiete zu erschließen.

ple_VI.010
Was hier in kurzen Zügen angedeutet ist, die Eigentümlichkeit und Tragweite ple_VI.011
der Aufgabe, die Schwierigkeiten, die sich ihr entgegenstellen und die Fernsichten, ple_VI.012
die sich ihr eröffnen, ist in dem ersten, grundlegenden Teil des Buches eingehend ple_VI.013
dargelegt; ich verweise besonders auf das fünfte Kapitel, das die positiven Gesichtspunkte ple_VI.014
für die folgenden Abschnitte zusammenfassend zur Darstellung bringt. ple_VI.015
Es ergibt sich dort als notwendig, zunächst die Formenelemente der Poesie zu ple_VI.016
betrachten und von da aus zu den Gattungen fortzuschreiten, welche als Besonderungen ple_VI.017
der Form aus ihnen hervorgehen. Von diesen Betrachtungen formal ple_VI.018
ästhetischer Natur aber ist die Erörterung der allgemeinen künstlerischen und sittlichen ple_VI.019
Richtungen zu trennen, die den Gefühlsgehalt und die Anschauungsweise ple_VI.020
dichterischer Werke bestimmen. Es gehörte zu den Irrtümern der alten ple_VI.021
Poetik, daß sie inhaltliche und formale Gesichtspunkte vermengte und die einen ple_VI.022
aus den anderen glaubte ableiten zu können. So behandelte sie z. B. das ple_VI.023
Tragische als ein Teilgebiet des Dramatischen, oder sie suchte umgekehrt die ple_VI.024
Formengesetze der Tragödie, statt aus dem Wesen der dramatischen Gattung, ple_VI.025
vielmehr aus dem Begriff des Tragischen zu gewinnen. Demgegenüber hat die ple_VI.026
moderne Ästhetik mit Recht den organischen Zusammenhang der dichterischen ple_VI.027
und überhaupt künstlerischen Formenprinzipien schärfer betont. Übergehen durfte ple_VI.028
ich freilich auch jene inhaltlichen Richtungen nicht, wenn ich nicht in die Einseitigkeit ple_VI.029
verfallen wollte, die Poesie als eine reine Formenkunst zu behandeln; ple_VI.030
sie verlangten vielmehr eine gesonderte Betrachtung und Würdigung. Einer solchen ple_VI.031
ist der vierte und letzte Teil des Buches gewidmet; denn erst hiermit schließt sich ple_VI.032
die Poetik zu einem umfassenden Ganzen zusammen.

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Posen, im Januar 1908.

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. RVI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/10>, abgerufen am 21.11.2024.