Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_005.001 ple_005.029 ple_005.001 ple_005.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0019" n="5"/><lb n="ple_005.001"/> Musique. Paris 1719) und nach ihm <hi rendition="#g">Batteux</hi> (Principes de Littérature. <lb n="ple_005.002"/> Paris 1747–55), eine systematische Kunstlehre in unmittelbarem Anschluß <lb n="ple_005.003"/> an Aristoteles. Allein alle diese Männer blieben über die Eigenart dieser <lb n="ple_005.004"/> antiken Poetik, sowohl was Methode als was Tragweite betrifft, im unklaren. <lb n="ple_005.005"/> Sie faßten den Beobachter und Zergliederer als apodiktischen Gesetzgeber, <lb n="ple_005.006"/> sie sahen auch da Werturteile und zwar unanfechtbare, wo er nur Tatsachen <lb n="ple_005.007"/> verzeichnet hat, wie in der berühmten Lehre von den Einheiten. Aber auch <lb n="ple_005.008"/> <hi rendition="#g">Lessing,</hi> der der werdenden deutschen Dichtung die Wege wies und den <lb n="ple_005.009"/> künstlerischen Fragen, die sich dabei erhoben, weit freier und vorurteilsloser <lb n="ple_005.010"/> gegenüberstand als die Franzosen, war sich doch über den empirischen <lb n="ple_005.011"/> Charakter und die Tragweite der Aristotelischen Poetik im ganzen kaum <lb n="ple_005.012"/> klarer als sie. Wie hätte er sonst im Schlußwort der Dramaturgie jenes <lb n="ple_005.013"/> Bekenntnis ablegen können, daß er die Poetik „für ein ebenso unfehlbares <lb n="ple_005.014"/> Werk halte, als die Elemente des Euklides nur immer sind“! Und dieser <lb n="ple_005.015"/> Wertung entspricht es, wenn der deutsche Dramaturg fast überall, wo er <lb n="ple_005.016"/> allgemeine Fragen behandelt und zumal da, wo er den Franzosen entgegentritt, <lb n="ple_005.017"/> nicht die Probleme selbst erörtert, sondern die Aristotelische <lb n="ple_005.018"/> Auffassung derselben: für ihn versteht es sich eben von selbst, daß, wenn <lb n="ple_005.019"/> die Meinung des Aristoteles klargestellt, damit auch die sachliche Wahrheit <lb n="ple_005.020"/> selbst gefunden ist. Dabei wendet er die Methode seines antiken Vorbildes <lb n="ple_005.021"/> gelegentlich mit ebensoviel Geist wie Glück auf Probleme der neueren <lb n="ple_005.022"/> Literatur an. Deutlicher als in der Dramaturgie tritt das in den literarischen <lb n="ple_005.023"/> Abschnitten des Laokoon hervor. Die Verurteilung der beschreibenden <lb n="ple_005.024"/> Poesie und die berühmte Forderung, die sich daran knüpft, Schilderung <lb n="ple_005.025"/> in Handlung umzusetzen, sind in echt aristotelischem Sinne „aus den ersten <lb n="ple_005.026"/> Gründen“ abgeleitet: aus den technischen Bedingungen nämlich, unter <lb n="ple_005.027"/> denen der Dichter schafft, und den Wirkungen, welche durch dieselben bedingt <lb n="ple_005.028"/> werden.</p> <p><lb n="ple_005.029"/> Überhaupt ist der methodologische Irrtum, der in den Verallgemeinerungen <lb n="ple_005.030"/> der Poetik ein begriffliches System von absoluter Gewißheit sieht, <lb n="ple_005.031"/> zwar charakteristisch für die Anschauung des älteren Klassizismus, aber doch <lb n="ple_005.032"/> nicht von ausschlaggebender Bedeutung, besonders für den jüngeren nicht. <lb n="ple_005.033"/> Schiller sowohl wie Goethe haben die Eigenart der aristotelischen Methode <lb n="ple_005.034"/> durchaus richtig und unbefangen erkannt, und es gibt keine treffendere Charakteristik <lb n="ple_005.035"/> derselben, als sie Schiller in seinem Brief an Goethe vom 5. Mai 1797 <lb n="ple_005.036"/> entworfen hat. Beide sahen sehr wohl, daß die Ergebnisse seiner Untersuchungen <lb n="ple_005.037"/> völlig „auf empirischen Gründen beruhten“ und somit auf allgemeine <lb n="ple_005.038"/> Gültigkeit im mathematischen Sinne keinen Anspruch erheben <lb n="ple_005.039"/> konnten. Gleichwohl standen beide dem Inhalt seiner Sätze nicht wesentlich <lb n="ple_005.040"/> anders gegenüber wie Lessing, und die Geltung seiner Ergebnisse <lb n="ple_005.041"/> erschien ihnen in allem wesentlichen nicht minder zweifellos als jenem. <lb n="ple_005.042"/> Und wie hätte das auch anders sein können? Die Empirie des antiken <lb n="ple_005.043"/> Denkers umfaßte ja nach der Anschauung des gesamten Klassizismus diejenigen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [5/0019]
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Musique. Paris 1719) und nach ihm Batteux (Principes de Littérature. ple_005.002
Paris 1747–55), eine systematische Kunstlehre in unmittelbarem Anschluß ple_005.003
an Aristoteles. Allein alle diese Männer blieben über die Eigenart dieser ple_005.004
antiken Poetik, sowohl was Methode als was Tragweite betrifft, im unklaren. ple_005.005
Sie faßten den Beobachter und Zergliederer als apodiktischen Gesetzgeber, ple_005.006
sie sahen auch da Werturteile und zwar unanfechtbare, wo er nur Tatsachen ple_005.007
verzeichnet hat, wie in der berühmten Lehre von den Einheiten. Aber auch ple_005.008
Lessing, der der werdenden deutschen Dichtung die Wege wies und den ple_005.009
künstlerischen Fragen, die sich dabei erhoben, weit freier und vorurteilsloser ple_005.010
gegenüberstand als die Franzosen, war sich doch über den empirischen ple_005.011
Charakter und die Tragweite der Aristotelischen Poetik im ganzen kaum ple_005.012
klarer als sie. Wie hätte er sonst im Schlußwort der Dramaturgie jenes ple_005.013
Bekenntnis ablegen können, daß er die Poetik „für ein ebenso unfehlbares ple_005.014
Werk halte, als die Elemente des Euklides nur immer sind“! Und dieser ple_005.015
Wertung entspricht es, wenn der deutsche Dramaturg fast überall, wo er ple_005.016
allgemeine Fragen behandelt und zumal da, wo er den Franzosen entgegentritt, ple_005.017
nicht die Probleme selbst erörtert, sondern die Aristotelische ple_005.018
Auffassung derselben: für ihn versteht es sich eben von selbst, daß, wenn ple_005.019
die Meinung des Aristoteles klargestellt, damit auch die sachliche Wahrheit ple_005.020
selbst gefunden ist. Dabei wendet er die Methode seines antiken Vorbildes ple_005.021
gelegentlich mit ebensoviel Geist wie Glück auf Probleme der neueren ple_005.022
Literatur an. Deutlicher als in der Dramaturgie tritt das in den literarischen ple_005.023
Abschnitten des Laokoon hervor. Die Verurteilung der beschreibenden ple_005.024
Poesie und die berühmte Forderung, die sich daran knüpft, Schilderung ple_005.025
in Handlung umzusetzen, sind in echt aristotelischem Sinne „aus den ersten ple_005.026
Gründen“ abgeleitet: aus den technischen Bedingungen nämlich, unter ple_005.027
denen der Dichter schafft, und den Wirkungen, welche durch dieselben bedingt ple_005.028
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Überhaupt ist der methodologische Irrtum, der in den Verallgemeinerungen ple_005.030
der Poetik ein begriffliches System von absoluter Gewißheit sieht, ple_005.031
zwar charakteristisch für die Anschauung des älteren Klassizismus, aber doch ple_005.032
nicht von ausschlaggebender Bedeutung, besonders für den jüngeren nicht. ple_005.033
Schiller sowohl wie Goethe haben die Eigenart der aristotelischen Methode ple_005.034
durchaus richtig und unbefangen erkannt, und es gibt keine treffendere Charakteristik ple_005.035
derselben, als sie Schiller in seinem Brief an Goethe vom 5. Mai 1797 ple_005.036
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völlig „auf empirischen Gründen beruhten“ und somit auf allgemeine ple_005.038
Gültigkeit im mathematischen Sinne keinen Anspruch erheben ple_005.039
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Und wie hätte das auch anders sein können? Die Empirie des antiken ple_005.043
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