Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_250.001 ple_250.026 ple_250.001 ple_250.026 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0264" n="250"/><lb n="ple_250.001"/> Helden nichts entspricht: Sophokles' Antigone, Goethes Götz und Egmont, <lb n="ple_250.002"/> Grillparzers Ottokar geben Beispiele davon. Der Gegensatz kann bis zum <lb n="ple_250.003"/> Dämonischen gesteigert werden wie in Äschylos' Prometheus oder Shakespeares <lb n="ple_250.004"/> Richard III., und doch ist diese Art der Tragik die am wenigsten <lb n="ple_250.005"/> tiefe; sie vermag uns mehr zu erschüttern als zu ergreifen. Alles innere <lb n="ple_250.006"/> Geschehen findet in unserem Innern tieferen Wiederhall als äußere Ereignisse. <lb n="ple_250.007"/> Daher steigert und vertieft sich die tragische Wirkung, wenn die <lb n="ple_250.008"/> Gegenmächte, an denen der Held scheitert, innerer Art sind, wenn eine <lb n="ple_250.009"/> tragische Veranlagung seinen Willen spaltet und er so an sich selbst <lb n="ple_250.010"/> zugrunde geht. Freilich, da alles innere Geschehen den Anstoß durch <lb n="ple_250.011"/> äußere Ereignisse erhält, so kann es keine dichterische Handlung geben, <lb n="ple_250.012"/> die rein innerlich verläuft; doch kann die äußere Handlung so unbedeutend <lb n="ple_250.013"/> sein, daß ihr tatsächlich keine andere Aufgabe zufällt, als den <lb n="ple_250.014"/> tragischen Ablauf im Innern in Bewegung zu setzen. Im allgemeinen <lb n="ple_250.015"/> wird das häufiger in der Romandichtung der Fall sein als im Drama, da <lb n="ple_250.016"/> die Bühne einer bewegten äußeren Handlung nicht entbehren kann: so im <lb n="ple_250.017"/> Werther, in den Wahlverwandtschaften, in George Eliots Mühle am Floß, <lb n="ple_250.018"/> in Guy de Maupassants „Fort comme la mort“ und in Zolas „L'Oeuvre“. <lb n="ple_250.019"/> In Gottfried Kellers Grünem Heinrich und Jakobsens Niels Lyhne ist <lb n="ple_250.020"/> tatsächlich die äußere Handlung so gut wie ganz aufgezehrt von der <lb n="ple_250.021"/> inneren Entwicklung. Aber auch das moderne Drama neigt vielfach zu <lb n="ple_250.022"/> solchem rein seelischen Verlauf, nachdem Goethes Tasso das erste Beispiel <lb n="ple_250.023"/> gegeben hat: Ibsens Nora und Baumeister Solneß und ihre deutschen <lb n="ple_250.024"/> Nachahmungen wie Gerhart Hauptmanns Einsame Menschen beweisen <lb n="ple_250.025"/> das.</p> <p><lb n="ple_250.026"/> Die häufigste und wirksamste Art des tragischen Verlaufs ist die, daß <lb n="ple_250.027"/> sich mit äußeren Gegenmächten innere verbinden. Im Kampfe gegen die <lb n="ple_250.028"/> Außenwelt geschieht es, daß sich die Triebe des Helden entzweien und, <lb n="ple_250.029"/> in dem doppelten Konflikt geht er zugrunde. So Shakespeares Coriolan, <lb n="ple_250.030"/> Schillers Wallenstein und Jungfrau, Grillparzers Sappho und Hebbels <lb n="ple_250.031"/> Judith. Dieses Zusammenwirken wird bestimmt und erleichtert durch den <lb n="ple_250.032"/> Charakter des Helden einerseits, durch die Art der äußeren Gegenmächte <lb n="ple_250.033"/> andrerseits. Charaktere, die ganz aus einem Guß sind, wie Goethes Götz <lb n="ple_250.034"/> und Egmont, können nicht mit sich selbst in Konflikt kommen, sondern <lb n="ple_250.035"/> nur dem äußeren Zusammentreffen feindlicher Konstellationen erliegen. <lb n="ple_250.036"/> Die äußeren Gegenmächte wiederum, wenn sie nur feindlicher und verneinender <lb n="ple_250.037"/> Art sind, wenn sie weder für den Helden, noch an sich irgend <lb n="ple_250.038"/> welche Werte vertreten, sind nicht imstande innere Kämpfe hervorzurufen. <lb n="ple_250.039"/> Der Untergang etwa in heldenmütigem Kriege wirkt an sich nicht tragisch, <lb n="ple_250.040"/> wie man sich z. B. aus Körners Zriny überzeugen kann: der Held, der <lb n="ple_250.041"/> sich begeistert für sein Vaterland opfert, erweckt Bewunderung, aber kein <lb n="ple_250.042"/> Mitleid, da er nicht innerlich leidet. Ebensowenig ist es tragisch, wenn <lb n="ple_250.043"/> er durch Ränke zugrunde gerichtet wird, denen er ahnungslos zum Opfer </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [250/0264]
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Helden nichts entspricht: Sophokles' Antigone, Goethes Götz und Egmont, ple_250.002
Grillparzers Ottokar geben Beispiele davon. Der Gegensatz kann bis zum ple_250.003
Dämonischen gesteigert werden wie in Äschylos' Prometheus oder Shakespeares ple_250.004
Richard III., und doch ist diese Art der Tragik die am wenigsten ple_250.005
tiefe; sie vermag uns mehr zu erschüttern als zu ergreifen. Alles innere ple_250.006
Geschehen findet in unserem Innern tieferen Wiederhall als äußere Ereignisse. ple_250.007
Daher steigert und vertieft sich die tragische Wirkung, wenn die ple_250.008
Gegenmächte, an denen der Held scheitert, innerer Art sind, wenn eine ple_250.009
tragische Veranlagung seinen Willen spaltet und er so an sich selbst ple_250.010
zugrunde geht. Freilich, da alles innere Geschehen den Anstoß durch ple_250.011
äußere Ereignisse erhält, so kann es keine dichterische Handlung geben, ple_250.012
die rein innerlich verläuft; doch kann die äußere Handlung so unbedeutend ple_250.013
sein, daß ihr tatsächlich keine andere Aufgabe zufällt, als den ple_250.014
tragischen Ablauf im Innern in Bewegung zu setzen. Im allgemeinen ple_250.015
wird das häufiger in der Romandichtung der Fall sein als im Drama, da ple_250.016
die Bühne einer bewegten äußeren Handlung nicht entbehren kann: so im ple_250.017
Werther, in den Wahlverwandtschaften, in George Eliots Mühle am Floß, ple_250.018
in Guy de Maupassants „Fort comme la mort“ und in Zolas „L'Oeuvre“. ple_250.019
In Gottfried Kellers Grünem Heinrich und Jakobsens Niels Lyhne ist ple_250.020
tatsächlich die äußere Handlung so gut wie ganz aufgezehrt von der ple_250.021
inneren Entwicklung. Aber auch das moderne Drama neigt vielfach zu ple_250.022
solchem rein seelischen Verlauf, nachdem Goethes Tasso das erste Beispiel ple_250.023
gegeben hat: Ibsens Nora und Baumeister Solneß und ihre deutschen ple_250.024
Nachahmungen wie Gerhart Hauptmanns Einsame Menschen beweisen ple_250.025
das.
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Die häufigste und wirksamste Art des tragischen Verlaufs ist die, daß ple_250.027
sich mit äußeren Gegenmächten innere verbinden. Im Kampfe gegen die ple_250.028
Außenwelt geschieht es, daß sich die Triebe des Helden entzweien und, ple_250.029
in dem doppelten Konflikt geht er zugrunde. So Shakespeares Coriolan, ple_250.030
Schillers Wallenstein und Jungfrau, Grillparzers Sappho und Hebbels ple_250.031
Judith. Dieses Zusammenwirken wird bestimmt und erleichtert durch den ple_250.032
Charakter des Helden einerseits, durch die Art der äußeren Gegenmächte ple_250.033
andrerseits. Charaktere, die ganz aus einem Guß sind, wie Goethes Götz ple_250.034
und Egmont, können nicht mit sich selbst in Konflikt kommen, sondern ple_250.035
nur dem äußeren Zusammentreffen feindlicher Konstellationen erliegen. ple_250.036
Die äußeren Gegenmächte wiederum, wenn sie nur feindlicher und verneinender ple_250.037
Art sind, wenn sie weder für den Helden, noch an sich irgend ple_250.038
welche Werte vertreten, sind nicht imstande innere Kämpfe hervorzurufen. ple_250.039
Der Untergang etwa in heldenmütigem Kriege wirkt an sich nicht tragisch, ple_250.040
wie man sich z. B. aus Körners Zriny überzeugen kann: der Held, der ple_250.041
sich begeistert für sein Vaterland opfert, erweckt Bewunderung, aber kein ple_250.042
Mitleid, da er nicht innerlich leidet. Ebensowenig ist es tragisch, wenn ple_250.043
er durch Ränke zugrunde gerichtet wird, denen er ahnungslos zum Opfer
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