Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_252.001 ple_252.026 ple_252.040 ple_252.001 ple_252.026 ple_252.040 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0266" n="252"/> <p><lb n="ple_252.001"/> Der Zufall kann uns nicht tragisch erschüttern, sondern nur überraschen <lb n="ple_252.002"/> und verwundern; herrschen muß Notwendigkeit, auch im Verlauf <lb n="ple_252.003"/> der äußeren Handlung. Allein diese Notwendigkeit darf kein Fatum <lb n="ple_252.004"/> sein, keine dunkle und absichtlich wirkende Macht, die aus dem Verborgenen <lb n="ple_252.005"/> das Tun und Leiden des Menschen beherrscht und ihn gegen <lb n="ple_252.006"/> den eigenen Willen zwingt. Sie darf es nicht sein, weil die Vorstellung <lb n="ple_252.007"/> von einer solchen Schicksalsmacht jeder Vernunft widerspricht und nur für <lb n="ple_252.008"/> eine ganz primitive Lebensanschauung glaublich erscheinen könnte. Die <lb n="ple_252.009"/> Naivität, mit der Homer seine Moira Sieg oder Tod seiner Helden entscheiden <lb n="ple_252.010"/> läßt, ist für jede entwickeltere Denkweise unmöglich. Es ist daher <lb n="ple_252.011"/> in der Tat noch keinem Trauerspieldichter eingefallen, das Schicksal <lb n="ple_252.012"/> selbst als dämonisch persönliche Macht ausdrücklich einzuführen oder anzuerkennen, <lb n="ple_252.013"/> und in diesem Sinne hatten unsere Müllner und Grillparzer <lb n="ple_252.014"/> recht, wenn sie sich dagegen verwahrten, Schicksalsdramen geschrieben zu <lb n="ple_252.015"/> haben. Mit gleichem Recht weist U. v. Wilamowitz-Möllendorff in der <lb n="ple_252.016"/> Einleitung zum Ödipus nach, „daß von einem Schicksal als einer Ursache, <lb n="ple_252.017"/> einer wirkenden Kraft bei Sophokles nirgends die Rede ist und keine Rede <lb n="ple_252.018"/> sein könnte“. Allein ob das Schicksal selbst die bestimmende Macht ist <lb n="ple_252.019"/> oder von den Göttern bestimmt wird, macht am Ende doch keinen wesentlichen <lb n="ple_252.020"/> Unterschied. Das Entscheidende für die Schicksalstragödie bleibt, <lb n="ple_252.021"/> daß ihre Menschen durch eine äußere unbekannte Gewalt zu Wollen, Tun <lb n="ple_252.022"/> und Leiden gezwungen werden: <lb n="ple_252.023"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Denn noch niemand entfloh dem verhängten Geschick,</l><lb n="ple_252.024"/><l>Und wer sich vermißt, es klüglich zu wenden,</l><lb n="ple_252.025"/><l>Der muß es sich selber erbauend vollenden.</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_252.026"/> Mit diesen Worten hat Schiller diese Anschauung zu klassischem Ausdruck <lb n="ple_252.027"/> gebracht. Die Mittel, durch die ein solcher Schicksalszwang möglich ist, <lb n="ple_252.028"/> sind immer eine Reihe von Zufällen, vor allem aber das Geheimnis, das <lb n="ple_252.029"/> über den entscheidenden Umständen, besonders der Herkunft des Helden <lb n="ple_252.030"/> liegt. Zufall und Geheimnis verketten sich nun so, daß eine deutliche <lb n="ple_252.031"/> Absichtlichkeit in dem Gesamtzusammenhang der Geschehnisse hervortritt, <lb n="ple_252.032"/> eine Absichtlichkeit, die wir auf die Götter, auf eine vergeltende Gerechtigkeit <lb n="ple_252.033"/> oder etwas dem Ähnliches zurückführen müssen. Um aber eine sittliche <lb n="ple_252.034"/> Macht zu sein, um als Symbol einer gerechten Weltordnung gepriesen <lb n="ple_252.035"/> zu werden, wie es am Schlusse der Ahnfrau geschieht, verfährt <lb n="ple_252.036"/> diese ewige Macht viel zu hinterlistig und tückisch, viel zu ungerecht und <lb n="ple_252.037"/> hart. Sie trifft zumeist den Schuldlosen, um den Schuldigen zu bestrafen. <lb n="ple_252.038"/> Zudem vermag uns selbst diese Absichtlichkeit nicht immer den Zufall, mit <lb n="ple_252.039"/> dem sie spielt, als mehr denn Zufall erscheinen zu lassen.</p> <p><lb n="ple_252.040"/> Alles dies gilt offenbar schon von dem Urtypus des Schicksalsdramas, <lb n="ple_252.041"/> dem König Ödipus. Was man auch darüber sagen mag, der Verlauf dieser <lb n="ple_252.042"/> Tragödie ist entsetzlich, ja empörend, und er wird auf ein unbefangenes <lb n="ple_252.043"/> Gemüt wohl immer so wirken, wie er denn allem Anschein nach auch </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [252/0266]
ple_252.001
Der Zufall kann uns nicht tragisch erschüttern, sondern nur überraschen ple_252.002
und verwundern; herrschen muß Notwendigkeit, auch im Verlauf ple_252.003
der äußeren Handlung. Allein diese Notwendigkeit darf kein Fatum ple_252.004
sein, keine dunkle und absichtlich wirkende Macht, die aus dem Verborgenen ple_252.005
das Tun und Leiden des Menschen beherrscht und ihn gegen ple_252.006
den eigenen Willen zwingt. Sie darf es nicht sein, weil die Vorstellung ple_252.007
von einer solchen Schicksalsmacht jeder Vernunft widerspricht und nur für ple_252.008
eine ganz primitive Lebensanschauung glaublich erscheinen könnte. Die ple_252.009
Naivität, mit der Homer seine Moira Sieg oder Tod seiner Helden entscheiden ple_252.010
läßt, ist für jede entwickeltere Denkweise unmöglich. Es ist daher ple_252.011
in der Tat noch keinem Trauerspieldichter eingefallen, das Schicksal ple_252.012
selbst als dämonisch persönliche Macht ausdrücklich einzuführen oder anzuerkennen, ple_252.013
und in diesem Sinne hatten unsere Müllner und Grillparzer ple_252.014
recht, wenn sie sich dagegen verwahrten, Schicksalsdramen geschrieben zu ple_252.015
haben. Mit gleichem Recht weist U. v. Wilamowitz-Möllendorff in der ple_252.016
Einleitung zum Ödipus nach, „daß von einem Schicksal als einer Ursache, ple_252.017
einer wirkenden Kraft bei Sophokles nirgends die Rede ist und keine Rede ple_252.018
sein könnte“. Allein ob das Schicksal selbst die bestimmende Macht ist ple_252.019
oder von den Göttern bestimmt wird, macht am Ende doch keinen wesentlichen ple_252.020
Unterschied. Das Entscheidende für die Schicksalstragödie bleibt, ple_252.021
daß ihre Menschen durch eine äußere unbekannte Gewalt zu Wollen, Tun ple_252.022
und Leiden gezwungen werden: ple_252.023
Denn noch niemand entfloh dem verhängten Geschick, ple_252.024
Und wer sich vermißt, es klüglich zu wenden, ple_252.025
Der muß es sich selber erbauend vollenden.
ple_252.026
Mit diesen Worten hat Schiller diese Anschauung zu klassischem Ausdruck ple_252.027
gebracht. Die Mittel, durch die ein solcher Schicksalszwang möglich ist, ple_252.028
sind immer eine Reihe von Zufällen, vor allem aber das Geheimnis, das ple_252.029
über den entscheidenden Umständen, besonders der Herkunft des Helden ple_252.030
liegt. Zufall und Geheimnis verketten sich nun so, daß eine deutliche ple_252.031
Absichtlichkeit in dem Gesamtzusammenhang der Geschehnisse hervortritt, ple_252.032
eine Absichtlichkeit, die wir auf die Götter, auf eine vergeltende Gerechtigkeit ple_252.033
oder etwas dem Ähnliches zurückführen müssen. Um aber eine sittliche ple_252.034
Macht zu sein, um als Symbol einer gerechten Weltordnung gepriesen ple_252.035
zu werden, wie es am Schlusse der Ahnfrau geschieht, verfährt ple_252.036
diese ewige Macht viel zu hinterlistig und tückisch, viel zu ungerecht und ple_252.037
hart. Sie trifft zumeist den Schuldlosen, um den Schuldigen zu bestrafen. ple_252.038
Zudem vermag uns selbst diese Absichtlichkeit nicht immer den Zufall, mit ple_252.039
dem sie spielt, als mehr denn Zufall erscheinen zu lassen.
ple_252.040
Alles dies gilt offenbar schon von dem Urtypus des Schicksalsdramas, ple_252.041
dem König Ödipus. Was man auch darüber sagen mag, der Verlauf dieser ple_252.042
Tragödie ist entsetzlich, ja empörend, und er wird auf ein unbefangenes ple_252.043
Gemüt wohl immer so wirken, wie er denn allem Anschein nach auch
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |