Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.
ple_040.001 ple_040.013 ple_040.024 5. Poetik als Kunstlehre. Die Zweifel an der Möglichkeit, eine ple_040.025 1) ple_040.040
In diesem Sinne bildet einen bedeutsamen Versuch, Scherers Ideen und Anregungen ple_040.041 weiter zu führen, das Buch von Ernst Elster: "Prinzipien der Literaturwissenschaft", ple_040.042 1. Bd., Halle 1897. Elster sucht aus Wundts Psychologie die wesentlichsten Kategorien ple_040.043 und Grundsätze für die wissenschaftliche Methode literarhistorischer Charakteristik ple_040.044 zu gewinnen. Er strebt also nicht sowohl eine Systematik der Dichtkunst, als eine Methodik ple_040.045 der Literaturgeschichtsschreibung an und gibt für eine solche eine Anzahl ple_040.046 wertvoller Gesichtspunkte.
ple_040.001 ple_040.013 ple_040.024 5. Poetik als Kunstlehre. Die Zweifel an der Möglichkeit, eine ple_040.025 1) ple_040.040
In diesem Sinne bildet einen bedeutsamen Versuch, Scherers Ideen und Anregungen ple_040.041 weiter zu führen, das Buch von Ernst Elster: „Prinzipien der Literaturwissenschaft“, ple_040.042 1. Bd., Halle 1897. Elster sucht aus Wundts Psychologie die wesentlichsten Kategorien ple_040.043 und Grundsätze für die wissenschaftliche Methode literarhistorischer Charakteristik ple_040.044 zu gewinnen. Er strebt also nicht sowohl eine Systematik der Dichtkunst, als eine Methodik ple_040.045 der Literaturgeschichtsschreibung an und gibt für eine solche eine Anzahl ple_040.046 wertvoller Gesichtspunkte. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p> <hi rendition="#aq"><pb facs="#f0054" n="40"/><lb n="ple_040.001"/> Phantasiegebilde unwillkürlich und unbewußt produzieren: aber auch nur insofern, denn <lb n="ple_040.002"/> — und hierin liegt der wesentliche Unterschied zwischen Schaffen und Träumen — es <lb n="ple_040.003"/> sind offenbar viel tiefere und mächtigere Kräfte, welche die künstlerischen Wachträume <lb n="ple_040.004"/> emportreiben. Welcher Art diese schöpferischen Kräfte sind, läßt sich allerdings weder <lb n="ple_040.005"/> darlegen noch erkennen. Wer sie einer wissenschaftlichen Untersuchung und Bestimmung <lb n="ple_040.006"/> für zugänglich hält, kann noch nicht einmal ein Gefühl von ihrem Wesen haben. Sie <lb n="ple_040.007"/> liegen in dem Unbewußten, jenseits der Grenze, bis zu der Gedanken und Worte reichen, <lb n="ple_040.008"/> und über die nur die Ahnung schweigend hinausdeutet“ (S. 66). „Da sich der schöpferische <lb n="ple_040.009"/> Prozeß im Unbewußten vollzieht, so kann nicht einmal der Künstler selbst wissen, <lb n="ple_040.010"/> wie er sich vollzieht.“ „Nur über die äußeren Umstände und Bedingungen der schöpferischen <lb n="ple_040.011"/> Produktion und über die spätere, mehr bewußte und willkürliche Arbeit der Ausführung <lb n="ple_040.012"/> vermag er Auskunft zu geben“ (S. 67).</hi> </p> <p> <lb n="ple_040.013"/> <hi rendition="#aq">Treffend und fein weist endlich <hi rendition="#g">Dessoir</hi> in seiner Ästhetik (Stuttgart 1906) auf die <lb n="ple_040.014"/> „antirealistischen“ Tendenzen der Phantasietätigkeit hin, ja, er sieht hier „den tatsächlichen <lb n="ple_040.015"/> Ausgangspunkt für die Seelenkenntnis des Dichters“ (S. 252). „Als das Ursprüngliche behaupten <lb n="ple_040.016"/> wir demnach die Freude an der Metamorphose, an der Loslösung (,die Lust am <lb n="ple_040.017"/> Anderssein' heißt es kurz vorher) und nicht etwa die Kunst, fremde Individualitäten zu <lb n="ple_040.018"/> durchschauen“ (oder die eigene darzustellen, dürfen wir hinzufügen). Und zusammenfassend: <lb n="ple_040.019"/> „Nein, die Beschaffenheit der äußeren Erlebnisse und des erscheinenden Charakters <lb n="ple_040.020"/> sind nicht das Wesentliche — aus Jugend und Phantasiespiel ist geflossen, was <lb n="ple_040.021"/> der Dichter von den Menschen zu sagen weiß. Und eben deshalb ist es so aussichtslos, <lb n="ple_040.022"/> den Lauf der poetischen Einbildungskraft gleich dem Flug eines Geschosses berechnen <lb n="ple_040.023"/> zu wollen.“</hi> </p> </div> <div n="3"> <head> <lb n="ple_040.024"/> <hi rendition="#b">5. Poetik als Kunstlehre.</hi> </head> <p> Die Zweifel an der Möglichkeit, eine <lb n="ple_040.025"/> systematische Psychologie des dichterischen Schaffens durchzuführen, können <lb n="ple_040.026"/> und werden die Forschung nicht verhindern, auch auf dem halb erhellten <lb n="ple_040.027"/> Gebiete vorzudringen, soweit sie vermag. So viel oder so wenig sie erreichen <lb n="ple_040.028"/> wird, es bleibt der Wissenschaft das Recht und die Pflicht, die <lb n="ple_040.029"/> Poesie und ihre Erzeugnisse als Material für Geistesgeschichte und Psychologie <lb n="ple_040.030"/> zu betrachten und zu verwerten. Und umgekehrt müssen sich aus <lb n="ple_040.031"/> einer solchen Betrachtungsart, ja schon aus der bloßen Stellung der Aufgabe, <lb n="ple_040.032"/> Gesichtspunkte ergeben, welche die Methoden der Literaturgeschichte <lb n="ple_040.033"/> und der Künstlerbiographie aufs fruchtbarste bereichern und vertiefen.<note xml:id="ple_040_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_040.040"/> In diesem Sinne bildet einen bedeutsamen Versuch, Scherers Ideen und Anregungen <lb n="ple_040.041"/> weiter zu führen, das Buch von Ernst <hi rendition="#g">Elster:</hi> „Prinzipien der Literaturwissenschaft“, <lb n="ple_040.042"/> 1. Bd., Halle 1897. 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Denn die psychologische Methode behandelt dasselbe <lb n="ple_040.039"/> als das Erzeugnis einer Reihe von seelischen Vorgängen: sie löst die </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [40/0054]
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Phantasiegebilde unwillkürlich und unbewußt produzieren: aber auch nur insofern, denn ple_040.002
— und hierin liegt der wesentliche Unterschied zwischen Schaffen und Träumen — es ple_040.003
sind offenbar viel tiefere und mächtigere Kräfte, welche die künstlerischen Wachträume ple_040.004
emportreiben. Welcher Art diese schöpferischen Kräfte sind, läßt sich allerdings weder ple_040.005
darlegen noch erkennen. Wer sie einer wissenschaftlichen Untersuchung und Bestimmung ple_040.006
für zugänglich hält, kann noch nicht einmal ein Gefühl von ihrem Wesen haben. Sie ple_040.007
liegen in dem Unbewußten, jenseits der Grenze, bis zu der Gedanken und Worte reichen, ple_040.008
und über die nur die Ahnung schweigend hinausdeutet“ (S. 66). „Da sich der schöpferische ple_040.009
Prozeß im Unbewußten vollzieht, so kann nicht einmal der Künstler selbst wissen, ple_040.010
wie er sich vollzieht.“ „Nur über die äußeren Umstände und Bedingungen der schöpferischen ple_040.011
Produktion und über die spätere, mehr bewußte und willkürliche Arbeit der Ausführung ple_040.012
vermag er Auskunft zu geben“ (S. 67).
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Treffend und fein weist endlich Dessoir in seiner Ästhetik (Stuttgart 1906) auf die ple_040.014
„antirealistischen“ Tendenzen der Phantasietätigkeit hin, ja, er sieht hier „den tatsächlichen ple_040.015
Ausgangspunkt für die Seelenkenntnis des Dichters“ (S. 252). „Als das Ursprüngliche behaupten ple_040.016
wir demnach die Freude an der Metamorphose, an der Loslösung (,die Lust am ple_040.017
Anderssein' heißt es kurz vorher) und nicht etwa die Kunst, fremde Individualitäten zu ple_040.018
durchschauen“ (oder die eigene darzustellen, dürfen wir hinzufügen). Und zusammenfassend: ple_040.019
„Nein, die Beschaffenheit der äußeren Erlebnisse und des erscheinenden Charakters ple_040.020
sind nicht das Wesentliche — aus Jugend und Phantasiespiel ist geflossen, was ple_040.021
der Dichter von den Menschen zu sagen weiß. Und eben deshalb ist es so aussichtslos, ple_040.022
den Lauf der poetischen Einbildungskraft gleich dem Flug eines Geschosses berechnen ple_040.023
zu wollen.“
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5. Poetik als Kunstlehre. Die Zweifel an der Möglichkeit, eine ple_040.025
systematische Psychologie des dichterischen Schaffens durchzuführen, können ple_040.026
und werden die Forschung nicht verhindern, auch auf dem halb erhellten ple_040.027
Gebiete vorzudringen, soweit sie vermag. So viel oder so wenig sie erreichen ple_040.028
wird, es bleibt der Wissenschaft das Recht und die Pflicht, die ple_040.029
Poesie und ihre Erzeugnisse als Material für Geistesgeschichte und Psychologie ple_040.030
zu betrachten und zu verwerten. Und umgekehrt müssen sich aus ple_040.031
einer solchen Betrachtungsart, ja schon aus der bloßen Stellung der Aufgabe, ple_040.032
Gesichtspunkte ergeben, welche die Methoden der Literaturgeschichte ple_040.033
und der Künstlerbiographie aufs fruchtbarste bereichern und vertiefen. 1) Allein ple_040.034
so viel oder so wenig nun auch das psychologische Verfahren auf diesem ple_040.035
Wege erreichen mag, eine Schranke ist ihm ein für allemal gezogen: es ple_040.036
muß seiner Natur nach eben da versagen, wo das spezifisch Künstlerische, ple_040.037
das eigentlich Ästhetische beginnt, bei der Betrachtung und Wertung des ple_040.038
Kunstwerks selber. Denn die psychologische Methode behandelt dasselbe ple_040.039
als das Erzeugnis einer Reihe von seelischen Vorgängen: sie löst die
1) ple_040.040
In diesem Sinne bildet einen bedeutsamen Versuch, Scherers Ideen und Anregungen ple_040.041
weiter zu führen, das Buch von Ernst Elster: „Prinzipien der Literaturwissenschaft“, ple_040.042
1. Bd., Halle 1897. Elster sucht aus Wundts Psychologie die wesentlichsten Kategorien ple_040.043
und Grundsätze für die wissenschaftliche Methode literarhistorischer Charakteristik ple_040.044
zu gewinnen. Er strebt also nicht sowohl eine Systematik der Dichtkunst, als eine Methodik ple_040.045
der Literaturgeschichtsschreibung an und gibt für eine solche eine Anzahl ple_040.046
wertvoller Gesichtspunkte.
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