Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_049.001 ple_049.003 ple_049.018 ple_049.036 6. Poetik als Methodenlehre. Indem die Poetik die Bestandteile, ple_049.037 ple_049.040 ple_049.001 ple_049.003 ple_049.018 ple_049.036 6. Poetik als Methodenlehre. Indem die Poetik die Bestandteile, ple_049.037 ple_049.040 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0063" n="49"/><lb n="ple_049.001"/> Vielmehr muß sie diese Aufgabe der psychologischen Wissenschaft <lb n="ple_049.002"/> überlassen, deren Ergebnisse sie voraussetzt.</p> <p><lb n="ple_049.003"/> Bei dieser Betrachtung nun sind wir stets genötigt, die Tätigkeit des <lb n="ple_049.004"/> künstlerischen Gestaltens als eine klar bewußte aufzufassen und ihre Wiedergabe <lb n="ple_049.005"/> in begrifflicher Deutlichkeit anzustreben; denn nur auf diese Weise <lb n="ple_049.006"/> können wir zu einem theoretischen Verständnis gelangen. In Wirklichkeit <lb n="ple_049.007"/> freilich verläuft der Prozeß niemals im vollen Sonnenlicht des Bewußtseins, <lb n="ple_049.008"/> sondern stets in einem Spiel zwischen Schatten und Licht, zwischen <lb n="ple_049.009"/> bewußter Absicht und unbewußten Instinkten. Daß hierin für die Psychologie <lb n="ple_049.010"/> eine besondere Schwierigkeit liegt, haben wir im vorigen Abschnitt <lb n="ple_049.011"/> gesehen. Allein die Poetik braucht für ihre Zwecke ebensowenig danach <lb n="ple_049.012"/> zu fragen, wie die Biologie danach fragt, ob die Zweckmäßigkeit der <lb n="ple_049.013"/> Organismen, von der sie ausgeht, auf einer bewußten Zwecksetzung des <lb n="ple_049.014"/> Weltschöpfers beruht oder nicht. Jede begriffliche Verdeutlichung ist eine <lb n="ple_049.015"/> Hilfskonstruktion der erklärenden Wissenschaft und vermag niemals die <lb n="ple_049.016"/> Wirklichkeit als solche wiederzugeben, sondern sie immer nur im abstrakten <lb n="ple_049.017"/> Ausschnitt darzustellen und eben hierdurch verständlich zu machen.</p> <p> <lb n="ple_049.018"/> <hi rendition="#aq">Die Lehre von der Dichtkunst auf eine im modernen Sinne wissenschaftliche <lb n="ple_049.019"/> Psychologie der dichterischen Wirkungen zu begründen, unternimmt <hi rendition="#k">H. Roetteken</hi> in <lb n="ple_049.020"/> seiner auf drei Bände angelegten Poetik. Der bisher erschienene erste Teil (München 1902) <lb n="ple_049.021"/> enthält neben einer Erörterung der Prinzipien die „Allgemeine Analyse der psychischen <lb n="ple_049.022"/> Vorgänge beim Genuß einer Dichtung“. „Die ästhetisch-psychologischen Probleme muß <lb n="ple_049.023"/> die Poetik so ausführlich diskutieren,“ sagt Roetteken S. 3, „daß sie für diese Dinge den <lb n="ple_049.024"/> Lernenden nicht noch weiter zu schicken braucht.“ Wenn nun auch sicherlich die psychologische <lb n="ple_049.025"/> Analyse des künstlerischen Genusses in weiterem Umfang durchführbar ist als <lb n="ple_049.026"/> eine Psychologie des dichterischen Schaffens, so vermag sie doch ebensowenig wie diese <lb n="ple_049.027"/> die besonderen Leistungen der Poetik zu ersetzen oder auch nur zu begründen und erhellen. <lb n="ple_049.028"/> Denn auch sie stößt auf viel zu viele irrationale Elemente des Seelenlebens, auf <lb n="ple_049.029"/> viel zu viele halb und weniger als halb bewußte psychische Vorgänge, als daß es ihr <lb n="ple_049.030"/> möglich sein sollte, die Bildungsgesetze und Erscheinungsformen der Poesie auch nur in <lb n="ple_049.031"/> den Hauptzügen lückenlos abzuleiten und verständlich zu machen. Der weitaus größere <lb n="ple_049.032"/> Teil der Untersuchungen Roettekens gehört daher in die allgemeine Ästhetik und erweist sich <lb n="ple_049.033"/> für die Kunstlehre der Dichtung und ihre besonderen Probleme bis jetzt nicht eben ergiebig. <lb n="ple_049.034"/> Ein abschließendes Urteil läßt sich natürlich erst nach dem Erscheinen des ganzen <lb n="ple_049.035"/> Werkes fällen.</hi> </p> </div> <div n="3"> <head> <lb n="ple_049.036"/> <hi rendition="#b">6. Poetik als Methodenlehre.</hi> </head> <p> Indem die Poetik die Bestandteile, <lb n="ple_049.037"/> die innere und äußere Struktur des Dichtwerks aufdeckt, ist sie Kunstlehre; <lb n="ple_049.038"/> indem sie eben hiermit zugleich die Gesichtspunkte für das künstlerische <lb n="ple_049.039"/> Verständnis vorzeichnet, wird sie Methodenlehre.</p> <p><lb n="ple_049.040"/> Methodischer Anleitung hat die Theorie der Dichtkunst von jeher <lb n="ple_049.041"/> dienen wollen. Die systematischen Lehrbücher des 17. und 18. Jahrhunderts <lb n="ple_049.042"/> wollten, wie wir im Eingang gesehen haben, geradezu <hi rendition="#g">Anweisung <lb n="ple_049.043"/> zum Dichten</hi> und in zweiter Reihe <hi rendition="#g">zur Kritik</hi> geben. Die <lb n="ple_049.044"/> psychologisch-historische Poetik, wie sie Scherer und Dilthey vorschwebt, <lb n="ple_049.045"/> ist im wentlichen eine systematische Zusammenstellung der Gesichtspunkte </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [49/0063]
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Vielmehr muß sie diese Aufgabe der psychologischen Wissenschaft ple_049.002
überlassen, deren Ergebnisse sie voraussetzt.
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Bei dieser Betrachtung nun sind wir stets genötigt, die Tätigkeit des ple_049.004
künstlerischen Gestaltens als eine klar bewußte aufzufassen und ihre Wiedergabe ple_049.005
in begrifflicher Deutlichkeit anzustreben; denn nur auf diese Weise ple_049.006
können wir zu einem theoretischen Verständnis gelangen. In Wirklichkeit ple_049.007
freilich verläuft der Prozeß niemals im vollen Sonnenlicht des Bewußtseins, ple_049.008
sondern stets in einem Spiel zwischen Schatten und Licht, zwischen ple_049.009
bewußter Absicht und unbewußten Instinkten. Daß hierin für die Psychologie ple_049.010
eine besondere Schwierigkeit liegt, haben wir im vorigen Abschnitt ple_049.011
gesehen. Allein die Poetik braucht für ihre Zwecke ebensowenig danach ple_049.012
zu fragen, wie die Biologie danach fragt, ob die Zweckmäßigkeit der ple_049.013
Organismen, von der sie ausgeht, auf einer bewußten Zwecksetzung des ple_049.014
Weltschöpfers beruht oder nicht. Jede begriffliche Verdeutlichung ist eine ple_049.015
Hilfskonstruktion der erklärenden Wissenschaft und vermag niemals die ple_049.016
Wirklichkeit als solche wiederzugeben, sondern sie immer nur im abstrakten ple_049.017
Ausschnitt darzustellen und eben hierdurch verständlich zu machen.
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Die Lehre von der Dichtkunst auf eine im modernen Sinne wissenschaftliche ple_049.019
Psychologie der dichterischen Wirkungen zu begründen, unternimmt H. Roetteken in ple_049.020
seiner auf drei Bände angelegten Poetik. Der bisher erschienene erste Teil (München 1902) ple_049.021
enthält neben einer Erörterung der Prinzipien die „Allgemeine Analyse der psychischen ple_049.022
Vorgänge beim Genuß einer Dichtung“. „Die ästhetisch-psychologischen Probleme muß ple_049.023
die Poetik so ausführlich diskutieren,“ sagt Roetteken S. 3, „daß sie für diese Dinge den ple_049.024
Lernenden nicht noch weiter zu schicken braucht.“ Wenn nun auch sicherlich die psychologische ple_049.025
Analyse des künstlerischen Genusses in weiterem Umfang durchführbar ist als ple_049.026
eine Psychologie des dichterischen Schaffens, so vermag sie doch ebensowenig wie diese ple_049.027
die besonderen Leistungen der Poetik zu ersetzen oder auch nur zu begründen und erhellen. ple_049.028
Denn auch sie stößt auf viel zu viele irrationale Elemente des Seelenlebens, auf ple_049.029
viel zu viele halb und weniger als halb bewußte psychische Vorgänge, als daß es ihr ple_049.030
möglich sein sollte, die Bildungsgesetze und Erscheinungsformen der Poesie auch nur in ple_049.031
den Hauptzügen lückenlos abzuleiten und verständlich zu machen. Der weitaus größere ple_049.032
Teil der Untersuchungen Roettekens gehört daher in die allgemeine Ästhetik und erweist sich ple_049.033
für die Kunstlehre der Dichtung und ihre besonderen Probleme bis jetzt nicht eben ergiebig. ple_049.034
Ein abschließendes Urteil läßt sich natürlich erst nach dem Erscheinen des ganzen ple_049.035
Werkes fällen.
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6. Poetik als Methodenlehre. Indem die Poetik die Bestandteile, ple_049.037
die innere und äußere Struktur des Dichtwerks aufdeckt, ist sie Kunstlehre; ple_049.038
indem sie eben hiermit zugleich die Gesichtspunkte für das künstlerische ple_049.039
Verständnis vorzeichnet, wird sie Methodenlehre.
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Methodischer Anleitung hat die Theorie der Dichtkunst von jeher ple_049.041
dienen wollen. Die systematischen Lehrbücher des 17. und 18. Jahrhunderts ple_049.042
wollten, wie wir im Eingang gesehen haben, geradezu Anweisung ple_049.043
zum Dichten und in zweiter Reihe zur Kritik geben. Die ple_049.044
psychologisch-historische Poetik, wie sie Scherer und Dilthey vorschwebt, ple_049.045
ist im wentlichen eine systematische Zusammenstellung der Gesichtspunkte
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