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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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Schein des Rechts erhoben hat. Es ist dies, daß die Wirkung eines Dichtwerks ple_067.002
nicht sowohl von den Kunstmitteln an sich als von dem Publikum ple_067.003
abhängt, auf das sie wirken sollen: daher denn auch in verschiedenen ple_067.004
Zeiten und innerhalb derselben Zeit auf verschiedene Schichten eines Volks ple_067.005
die gleichen Dichtungen nicht den gleichen Eindruck machen. Danach ple_067.006
also scheint der Maßstab, der von diesen Eindrücken hergeleitet wird, notwendigerweise ple_067.007
selber relativ und unsicher zu sein.

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Auf diesen Einwurf nun aber ist folgendes zu erwidern. Es ist ganz ple_067.009
richtig, daß alle induktiv gefundenen Werturteile von beschränkter Allgemeinheit ple_067.010
und bedingter Gültigkeit sind; unsicher und schwankend aber brauchen ple_067.011
sie darum nicht zu sein. Was zunächst die Verschiedenheit der Zeiten ple_067.012
und Kulturen betrifft, so findet hier freilich -- wie wir bereits an einem ple_067.013
Beispiel gesehen haben -- eine gewisse Verschiebung des Werturteils statt. ple_067.014
Allein im wesentlichen tritt nur die eine Tatsache deutlich hervor, daß die ple_067.015
Art der Wirkungen und die Mittel, durch die sie hervorgebracht werden, ple_067.016
sich mit der Kulturstufe des Publikums ändern und folglich bei Völkern ple_067.017
höherer Kultur andere sind wie bei weniger entwickelten oder gar bei ple_067.018
Naturvölkern. Der Unterschied aber in dem, was auf verschiedene Epochen ple_067.019
und Völker annähernd gleich hoher Kultur wirkt, ist weit geringer, als man ple_067.020
bisweilen annimmt. Wie wäre es sonst möglich, daß nicht nur Homer ple_067.021
und Sophokles, an denen wir uns selbst gebildet haben, sondern auch ple_067.022
Kalidasa und Hafis, die auf völlig fremdem Boden erwachsen sind, Europäer ple_067.023
des 19. und 20. Jahrhunderts ergreifen und erfreuen können? Ja, eben ple_067.024
in dieser Allgemeinheit der Wirkung wird man ein wesentliches Kennzeichen ple_067.025
für den Wert einer Dichtung sehen dürfen: was nur auf enge ple_067.026
Kreise und nur in einem eng begrenzten Zeitraum Eindruck gemacht hat, ple_067.027
ist eben darum schon weniger wertvoll als das, was Jahrtausende hindurch ple_067.028
für die verschiedensten Völker lebendig ist; und der von A. W. Schlegel ple_067.029
und Goethe geprägte Begriff der Weltliteratur enthält an sich schon ein ple_067.030
Werturteil. Das Studium solcher Dichtungen, die ihr angehören, die Analyse ple_067.031
der Mittel, auf dem ihre dauernde Lebendigkeit beruht, muß uns Maßstäbe ple_067.032
in die Hand geben, nach denen wir auch für die Werke unserer ple_067.033
eigenen Zeit zwischen Modeströmungen und dauernden Werten zu unterscheiden ple_067.034
vermögen. Eben hierdurch bildet das Studium der Literaturgeschichte ple_067.035
das ästhetische Urteil.

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Was von den Kulturabständen verschiedener Zeiträume gilt, das trifft ple_067.037
im wesentlichen auch auf die verschiedenen Bildungsschichten innerhalb ple_067.038
desselben Zeitalters und desselben Volkes zu. Auch hier herrscht eine ple_067.039
starke Verschiedenheit zwischen der Art des Geschmacks und der Empfänglichkeit ple_067.040
der verschiedenen Bevölkerungsklassen, am meisten da, wo, wie ple_067.041
bei den modernen Kulturnationen die oberen Klassen an einer historischen ple_067.042
Bildung teilhaben, von der die unteren nichts wissen. Es ist eben auch ple_067.043
hier ein Abstand der Kulturstufen, der sich in der Kunst wie auf allen

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Schein des Rechts erhoben hat. Es ist dies, daß die Wirkung eines Dichtwerks ple_067.002
nicht sowohl von den Kunstmitteln an sich als von dem Publikum ple_067.003
abhängt, auf das sie wirken sollen: daher denn auch in verschiedenen ple_067.004
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die gleichen Dichtungen nicht den gleichen Eindruck machen. Danach ple_067.006
also scheint der Maßstab, der von diesen Eindrücken hergeleitet wird, notwendigerweise ple_067.007
selber relativ und unsicher zu sein.

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Auf diesen Einwurf nun aber ist folgendes zu erwidern. Es ist ganz ple_067.009
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und bedingter Gültigkeit sind; unsicher und schwankend aber brauchen ple_067.011
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höherer Kultur andere sind wie bei weniger entwickelten oder gar bei ple_067.018
Naturvölkern. Der Unterschied aber in dem, was auf verschiedene Epochen ple_067.019
und Völker annähernd gleich hoher Kultur wirkt, ist weit geringer, als man ple_067.020
bisweilen annimmt. Wie wäre es sonst möglich, daß nicht nur Homer ple_067.021
und Sophokles, an denen wir uns selbst gebildet haben, sondern auch ple_067.022
Kalidâsa und Hafis, die auf völlig fremdem Boden erwachsen sind, Europäer ple_067.023
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in dieser Allgemeinheit der Wirkung wird man ein wesentliches Kennzeichen ple_067.025
für den Wert einer Dichtung sehen dürfen: was nur auf enge ple_067.026
Kreise und nur in einem eng begrenzten Zeitraum Eindruck gemacht hat, ple_067.027
ist eben darum schon weniger wertvoll als das, was Jahrtausende hindurch ple_067.028
für die verschiedensten Völker lebendig ist; und der von A. W. Schlegel ple_067.029
und Goethe geprägte Begriff der Weltliteratur enthält an sich schon ein ple_067.030
Werturteil. Das Studium solcher Dichtungen, die ihr angehören, die Analyse ple_067.031
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in die Hand geben, nach denen wir auch für die Werke unserer ple_067.033
eigenen Zeit zwischen Modeströmungen und dauernden Werten zu unterscheiden ple_067.034
vermögen. Eben hierdurch bildet das Studium der Literaturgeschichte ple_067.035
das ästhetische Urteil.

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Was von den Kulturabständen verschiedener Zeiträume gilt, das trifft ple_067.037
im wesentlichen auch auf die verschiedenen Bildungsschichten innerhalb ple_067.038
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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/81>, abgerufen am 24.11.2024.