Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_073.001 ple_073.035 ple_073.001 ple_073.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0087" n="73"/> <p><lb n="ple_073.001"/> Hieraus entspringt denn auch die erzieherische Wirkung wahrer Kunstwerke, <lb n="ple_073.002"/> und die pädagogischen Ziele, die wir mit der Dichterlektüre im <lb n="ple_073.003"/> Unterricht verbinden, werden verständlich. Die Empfänglichkeit für dichterische <lb n="ple_073.004"/> Stimmung, die Empfindung für die Schönheit dichterischer Form <lb n="ple_073.005"/> zu entwickeln ist sicher ein erstes und wesentliches Ziel aller ästhetischen <lb n="ple_073.006"/> Erziehung; auch der Unterricht wird es auf allen Stufen als eine wesentliche <lb n="ple_073.007"/> Aufgabe betrachten müssen. Und richtig ist es, daß ein zu weit <lb n="ple_073.008"/> getriebenes Eingehen auf die verstandesmäßig erkennbare Technik, eine <lb n="ple_073.009"/> allzu methodische Zergliederung der dichterischen Form diese Wirkung <lb n="ple_073.010"/> nicht fördert, sondern schädigt und hemmt. So weit haben die Warner <lb n="ple_073.011"/> recht, die den Übertreibungen einer ästhetischen Analyse in der Schule <lb n="ple_073.012"/> entgegentreten. Aber nun gibt es auch eine große Anzahl von Stimmen, <lb n="ple_073.013"/> ja man kann schon fast von einer Partei unter den Schulmännern reden, <lb n="ple_073.014"/> welche jede Art von verstandesmäßiger Behandlung der Poesie in der <lb n="ple_073.015"/> Schule ablehnen. Empfänglichkeit anregen und Stimmung erwecken ist <lb n="ple_073.016"/> das einzige Ziel, das sie als berechtigt zugestehen. Man sieht deutlich den <lb n="ple_073.017"/> Zusammenhang mit dem Ästhetentum, für das sich der gesamte Gehalt der <lb n="ple_073.018"/> Poesie in Stimmung verflüchtigt. Allein der Unterricht hat noch andere <lb n="ple_073.019"/> Aufgaben der Jugend gegenüber und noch andere Kräfte, um ihnen gerecht <lb n="ple_073.020"/> zu werden. Die Gestalten und Handlungen, die aus den Werken unserer <lb n="ple_073.021"/> großen Dichter sprechen, sollen ihnen verständlich und vertraut, sollen ihnen <lb n="ple_073.022"/> zu eigenen Erlebnissen werden. Der Gehalt dieser Dichtungen soll sie <lb n="ple_073.023"/> bereichern und ihren Sinn erweitern, und die edle Begeisterung, der hohe <lb n="ple_073.024"/> Idealismus unserer großen schöpferischen Geister soll Widerhall in der jungen <lb n="ple_073.025"/> Brust finden. Das aber ist nur möglich, wenn sie über die passive Empfänglichkeit <lb n="ple_073.026"/> hinweg und durch die bloße Stimmung hindurch zu einer Einsicht <lb n="ple_073.027"/> in den Gehalt dieser Dichtungen kommen, wenn sie an den Dichter oder an <lb n="ple_073.028"/> den Lehrer, der ihn vertreten soll, Fragen richten dürfen und in der Lehrstunde <lb n="ple_073.029"/> die Anregung erhalten, solche Fragen zu stellen und zu beantworten. <lb n="ple_073.030"/> Neben jenem ersten Ziel also wird der Unterricht stets und mit der zunehmenden <lb n="ple_073.031"/> Reife der Schüler immer entschiedener das zweite ins Auge fassen <lb n="ple_073.032"/> müssen; neben die bloße Darbietung muß die Erklärung des Inhalts treten. <lb n="ple_073.033"/> Beide Aufgaben zusammen erst erfüllen den Kreis des Lektüreunterrichts <lb n="ple_073.034"/> und begründen die ästhetische Bildung, die aus ihm hervorwachsen soll.</p> <p><lb n="ple_073.035"/> Doch wir dürfen diese Fragen, die ja an einer anderen Stelle dieses <lb n="ple_073.036"/> Werkes ausführlich erörtert sind, nur eben flüchtig berühren und müssen <lb n="ple_073.037"/> nunmehr dazu übergehen, unseren eigenen Aufgaben, die wir bisher nur in <lb n="ple_073.038"/> ihrem Gesamtumriß überblickt haben, in ihren einzelnen Teilen ins Auge <lb n="ple_073.039"/> zu fassen.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [73/0087]
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Hieraus entspringt denn auch die erzieherische Wirkung wahrer Kunstwerke, ple_073.002
und die pädagogischen Ziele, die wir mit der Dichterlektüre im ple_073.003
Unterricht verbinden, werden verständlich. Die Empfänglichkeit für dichterische ple_073.004
Stimmung, die Empfindung für die Schönheit dichterischer Form ple_073.005
zu entwickeln ist sicher ein erstes und wesentliches Ziel aller ästhetischen ple_073.006
Erziehung; auch der Unterricht wird es auf allen Stufen als eine wesentliche ple_073.007
Aufgabe betrachten müssen. Und richtig ist es, daß ein zu weit ple_073.008
getriebenes Eingehen auf die verstandesmäßig erkennbare Technik, eine ple_073.009
allzu methodische Zergliederung der dichterischen Form diese Wirkung ple_073.010
nicht fördert, sondern schädigt und hemmt. So weit haben die Warner ple_073.011
recht, die den Übertreibungen einer ästhetischen Analyse in der Schule ple_073.012
entgegentreten. Aber nun gibt es auch eine große Anzahl von Stimmen, ple_073.013
ja man kann schon fast von einer Partei unter den Schulmännern reden, ple_073.014
welche jede Art von verstandesmäßiger Behandlung der Poesie in der ple_073.015
Schule ablehnen. Empfänglichkeit anregen und Stimmung erwecken ist ple_073.016
das einzige Ziel, das sie als berechtigt zugestehen. Man sieht deutlich den ple_073.017
Zusammenhang mit dem Ästhetentum, für das sich der gesamte Gehalt der ple_073.018
Poesie in Stimmung verflüchtigt. Allein der Unterricht hat noch andere ple_073.019
Aufgaben der Jugend gegenüber und noch andere Kräfte, um ihnen gerecht ple_073.020
zu werden. Die Gestalten und Handlungen, die aus den Werken unserer ple_073.021
großen Dichter sprechen, sollen ihnen verständlich und vertraut, sollen ihnen ple_073.022
zu eigenen Erlebnissen werden. Der Gehalt dieser Dichtungen soll sie ple_073.023
bereichern und ihren Sinn erweitern, und die edle Begeisterung, der hohe ple_073.024
Idealismus unserer großen schöpferischen Geister soll Widerhall in der jungen ple_073.025
Brust finden. Das aber ist nur möglich, wenn sie über die passive Empfänglichkeit ple_073.026
hinweg und durch die bloße Stimmung hindurch zu einer Einsicht ple_073.027
in den Gehalt dieser Dichtungen kommen, wenn sie an den Dichter oder an ple_073.028
den Lehrer, der ihn vertreten soll, Fragen richten dürfen und in der Lehrstunde ple_073.029
die Anregung erhalten, solche Fragen zu stellen und zu beantworten. ple_073.030
Neben jenem ersten Ziel also wird der Unterricht stets und mit der zunehmenden ple_073.031
Reife der Schüler immer entschiedener das zweite ins Auge fassen ple_073.032
müssen; neben die bloße Darbietung muß die Erklärung des Inhalts treten. ple_073.033
Beide Aufgaben zusammen erst erfüllen den Kreis des Lektüreunterrichts ple_073.034
und begründen die ästhetische Bildung, die aus ihm hervorwachsen soll.
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Doch wir dürfen diese Fragen, die ja an einer anderen Stelle dieses ple_073.036
Werkes ausführlich erörtert sind, nur eben flüchtig berühren und müssen ple_073.037
nunmehr dazu übergehen, unseren eigenen Aufgaben, die wir bisher nur in ple_073.038
ihrem Gesamtumriß überblickt haben, in ihren einzelnen Teilen ins Auge ple_073.039
zu fassen.
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