Aber noch ein Nachtheil wirkt hier auf den Seeverkehr störend ein. Es ist die in manchen Jahren eintretende grosse Winterkälte, welche dann das Meer mit einer Eiskruste bedeckt und die Schiffahrt unterbricht. Das Zufrieren des Hafens ist jedoch keine regelmässige Wintererscheinung. Länger als 6 Wochen ist nicht erinnerlich, dass derselbe zugefroren geblieben sei. Bei starkem Froste und Nordost- winde sind Jänner und Februar die kritischen Monate.
Odessa ist Russlands wichtigster Hafen am Schwarzen Meere, der Brennpunkt des südrussischen Getreidehandels, neben welchem die anderen dort gelegenen Häfen, wie Nikolajew, Sewastopol und das neu entstandene Noworossisk nur eine secundäre Rolle spielen. Auch die Concurrenz auswärtiger Häfen, wie Königsberg und Danzig, die sich namentlich im Anfange der Achtzigerjahre geltend machte, ist nach der natürlichen Lage der Dinge nicht auf die Dauer besorg- nisserregend. Denn die Bedeutung Odessas liegt in seiner geographi- schen Lage und in seinen getreidereichen Hinterländern, aus welchen der Ueberschuss von Körnerfrüchten zur Deckung des Bedarfes ver- schiedener Theile Europas zur Ausfuhr hieher gelangt. Durch eine geschickte Tarifpolitik der Eisenbahnen des westlichen Russlands ist wohl in dem letzten Jahre die Ausfuhr eines Theiles des Tschernö Sem nach dem Norden abgelenkt worden, aber dem Handel Odessas bleibt unter allen Umständen ein umfangreicher Getreiderayon gesichert. Der Bau einer Küstenbahn, die heute noch dem Süden Russlands fehlt, würde Odessas Verkehr auf Kosten der anderen Plätze am Schwarzen Meere heben; denn auch hier würde der Verkehr des grösseren Platzes den der kleinen Concurrenten erdrücken.
Russlands Bedeutung als Agriculturstaat ist durch eine Reihe guter Ernten seit 1887 neuerdings zu ungeahnter Höhe gestiegen. Auf dem englischen Markte, der die grössten Mengen Getreides unter allen Ländern der Erde aufnimmt, trat 1888 Russland als erster Lie- ferant auf, und die südrussischen Häfen schickten ebensoviel dahin, wie in früheren Jahren die atlantischen Häfen der Union. Alles zeigt den ungemein grossen Aufschwung des Ausfuhrhandels in Russ- land, welcher in dem steigenden Rubelcourse einen unzweideutigen Ausdruck findet.
Mit dem Stande des Goldagios müssen in einem Lande des Zwangscourses Exporteur und Importeur beständig rechnen. Nun erhöhte wohl das Steigen des Rubelcourses für den ausländischen Käufer den Preis des russischen Getreides, vermochte aber den Export der grossartig reichen Ernte nicht zu hindern. Denn allent-
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Odessa.
Aber noch ein Nachtheil wirkt hier auf den Seeverkehr störend ein. Es ist die in manchen Jahren eintretende grosse Winterkälte, welche dann das Meer mit einer Eiskruste bedeckt und die Schiffahrt unterbricht. Das Zufrieren des Hafens ist jedoch keine regelmässige Wintererscheinung. Länger als 6 Wochen ist nicht erinnerlich, dass derselbe zugefroren geblieben sei. Bei starkem Froste und Nordost- winde sind Jänner und Februar die kritischen Monate.
Odessa ist Russlands wichtigster Hafen am Schwarzen Meere, der Brennpunkt des südrussischen Getreidehandels, neben welchem die anderen dort gelegenen Häfen, wie Nikolajew, Sewastopol und das neu entstandene Noworossisk nur eine secundäre Rolle spielen. Auch die Concurrenz auswärtiger Häfen, wie Königsberg und Danzig, die sich namentlich im Anfange der Achtzigerjahre geltend machte, ist nach der natürlichen Lage der Dinge nicht auf die Dauer besorg- nisserregend. Denn die Bedeutung Odessas liegt in seiner geographi- schen Lage und in seinen getreidereichen Hinterländern, aus welchen der Ueberschuss von Körnerfrüchten zur Deckung des Bedarfes ver- schiedener Theile Europas zur Ausfuhr hieher gelangt. Durch eine geschickte Tarifpolitik der Eisenbahnen des westlichen Russlands ist wohl in dem letzten Jahre die Ausfuhr eines Theiles des Tschernö Sem nach dem Norden abgelenkt worden, aber dem Handel Odessas bleibt unter allen Umständen ein umfangreicher Getreiderayon gesichert. Der Bau einer Küstenbahn, die heute noch dem Süden Russlands fehlt, würde Odessas Verkehr auf Kosten der anderen Plätze am Schwarzen Meere heben; denn auch hier würde der Verkehr des grösseren Platzes den der kleinen Concurrenten erdrücken.
Russlands Bedeutung als Agriculturstaat ist durch eine Reihe guter Ernten seit 1887 neuerdings zu ungeahnter Höhe gestiegen. Auf dem englischen Markte, der die grössten Mengen Getreides unter allen Ländern der Erde aufnimmt, trat 1888 Russland als erster Lie- ferant auf, und die südrussischen Häfen schickten ebensoviel dahin, wie in früheren Jahren die atlantischen Häfen der Union. Alles zeigt den ungemein grossen Aufschwung des Ausfuhrhandels in Russ- land, welcher in dem steigenden Rubelcourse einen unzweideutigen Ausdruck findet.
Mit dem Stande des Goldagios müssen in einem Lande des Zwangscourses Exporteur und Importeur beständig rechnen. Nun erhöhte wohl das Steigen des Rubelcourses für den ausländischen Käufer den Preis des russischen Getreides, vermochte aber den Export der grossartig reichen Ernte nicht zu hindern. Denn allent-
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Aber noch ein Nachtheil wirkt hier auf den Seeverkehr störend
ein. Es ist die in manchen Jahren eintretende grosse Winterkälte,
welche dann das Meer mit einer Eiskruste bedeckt und die Schiffahrt
unterbricht. Das Zufrieren des Hafens ist jedoch keine regelmässige
Wintererscheinung. Länger als 6 Wochen ist nicht erinnerlich, dass
derselbe zugefroren geblieben sei. Bei starkem Froste und Nordost-
winde sind Jänner und Februar die kritischen Monate.
Odessa ist Russlands wichtigster Hafen am Schwarzen Meere,
der Brennpunkt des südrussischen Getreidehandels, neben welchem
die anderen dort gelegenen Häfen, wie Nikolajew, Sewastopol und das
neu entstandene Noworossisk nur eine secundäre Rolle spielen. Auch
die Concurrenz auswärtiger Häfen, wie Königsberg und Danzig, die
sich namentlich im Anfange der Achtzigerjahre geltend machte, ist
nach der natürlichen Lage der Dinge nicht auf die Dauer besorg-
nisserregend. Denn die Bedeutung Odessas liegt in seiner geographi-
schen Lage und in seinen getreidereichen Hinterländern, aus welchen
der Ueberschuss von Körnerfrüchten zur Deckung des Bedarfes ver-
schiedener Theile Europas zur Ausfuhr hieher gelangt. Durch eine
geschickte Tarifpolitik der Eisenbahnen des westlichen Russlands ist
wohl in dem letzten Jahre die Ausfuhr eines Theiles des Tschernö Sem
nach dem Norden abgelenkt worden, aber dem Handel Odessas bleibt
unter allen Umständen ein umfangreicher Getreiderayon gesichert.
Der Bau einer Küstenbahn, die heute noch dem Süden Russlands
fehlt, würde Odessas Verkehr auf Kosten der anderen Plätze am
Schwarzen Meere heben; denn auch hier würde der Verkehr des
grösseren Platzes den der kleinen Concurrenten erdrücken.
Russlands Bedeutung als Agriculturstaat ist durch eine Reihe
guter Ernten seit 1887 neuerdings zu ungeahnter Höhe gestiegen.
Auf dem englischen Markte, der die grössten Mengen Getreides unter
allen Ländern der Erde aufnimmt, trat 1888 Russland als erster Lie-
ferant auf, und die südrussischen Häfen schickten ebensoviel dahin,
wie in früheren Jahren die atlantischen Häfen der Union. Alles zeigt
den ungemein grossen Aufschwung des Ausfuhrhandels in Russ-
land, welcher in dem steigenden Rubelcourse einen unzweideutigen
Ausdruck findet.
Mit dem Stande des Goldagios müssen in einem Lande des
Zwangscourses Exporteur und Importeur beständig rechnen. Nun
erhöhte wohl das Steigen des Rubelcourses für den ausländischen
Käufer den Preis des russischen Getreides, vermochte aber den
Export der grossartig reichen Ernte nicht zu hindern. Denn allent-
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Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehnert_seehaefen01_1891/191>, abgerufen am 24.11.2024.
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