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Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891.

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Das Mittelmeerbecken.
todt geglaubt, Genua, ist aus dem Scheintode erwacht, um sich in
wenig Jahren ein schönes Stück des Mittelmeerhandels zu erobern
und zu sichern.

Man beobachtet scharf alle Vorgänge in Genua, dem einzigen
Rivalen, der zu fürchten ist, der nicht nur in nächster Nähe, son-
dern auch im fernen Osten als Concurrent erscheint, der es am La
Plata seit 1889 bereits ist. Nichts erscheint darum in Marseille als
so unbedeutend, dass man es nicht beachtete und verfolgte. So hat
in neuester Zeit die Thatsache, dass der "Neederland" auf den Fahrten
nach Java jetzt Genua statt Marseille anläuft, stutzig gemacht. Dar-
über ist man sich aber vor Allem ganz klar, dass Genuas Aufschwung
in erster Linie mit der Vollendung der Gotthardbahn, welche Marseille
den Schweizer Handel und andere Beziehungen entriss, zusammen-
hängt; man erkennt auch, dass der Bau einer Simplonbahn Genua
nützen und Marseille mehr schaden wird, daher sinnt man auf Mittel,
die drohende Vollendung der Bahn über den Simplon für Marseille
unschädlich zu machen. Eine neue Canalverbindung soll neben der
schon bestehenden von Marseille zur unteren Rhone geschaffen, die
Stadt also dem Flusse näher gerückt, die billige Wasserstrasse gegen
die theure Gebirgsbahn in den Kampf geführt werden.

So weit wir die Geschichte Marseilles zurückverfolgen, zu allen
Zeiten war man bestrebt, dem Hafen ein möglichst grosses Hinter-
land als Absatz- und Handelsgebiet zu sichern. Seit den Tagen der
Römer ist Marseille der Endknotenpunkt eines Strassennetzes, das
fächerförmig nach West-Nord-Osten führt, bald im guten, bald im
schlechten Zustande war, aber immer den billigsten Träger des Verkehrs
abgab, weil andere Wege auch nicht besser waren. Seit Louis XIV.
sind diese französischen Strassen gut und sehr leistungsfähig; seit
1850--1860 treten auch hier die Eisenbahnen in ihre Rechte und
an wenig Plätzen Europas hat die Eisenbahnpolitik so viel zu leisten
als in Marseille.

Nach der Lage des Hafens müssen seine Bahnverbindungen zwei
Hauptrichtungen haben; die eine schlägt die Küstenlinie ein, die nach
Osten nach Genua, nach Westen über Nimes und Montpellier nach
Barcelona führt. Für die Verbindung nach dem Norden, die natürlich
wichtiger ist als die frühere, sorgt auch die grösste und reichste
der französischen Eisenbahngesellschaften, die Paris-, Lyon- und Mittel-
meerbahn, deren Netz zwischen den Linien Paris--Basel und Paris--
Cette liegt. Sie geht an der Rhone aufwärts nach dem wichtigen
Knotenpunkte Lyon, wo sie sich fächerartig in vier Linien spaltet.

Das Mittelmeerbecken.
todt geglaubt, Genua, ist aus dem Scheintode erwacht, um sich in
wenig Jahren ein schönes Stück des Mittelmeerhandels zu erobern
und zu sichern.

Man beobachtet scharf alle Vorgänge in Genua, dem einzigen
Rivalen, der zu fürchten ist, der nicht nur in nächster Nähe, son-
dern auch im fernen Osten als Concurrent erscheint, der es am La
Plata seit 1889 bereits ist. Nichts erscheint darum in Marseille als
so unbedeutend, dass man es nicht beachtete und verfolgte. So hat
in neuester Zeit die Thatsache, dass der „Neederland“ auf den Fahrten
nach Java jetzt Genua statt Marseille anläuft, stutzig gemacht. Dar-
über ist man sich aber vor Allem ganz klar, dass Genuas Aufschwung
in erster Linie mit der Vollendung der Gotthardbahn, welche Marseille
den Schweizer Handel und andere Beziehungen entriss, zusammen-
hängt; man erkennt auch, dass der Bau einer Simplonbahn Genua
nützen und Marseille mehr schaden wird, daher sinnt man auf Mittel,
die drohende Vollendung der Bahn über den Simplon für Marseille
unschädlich zu machen. Eine neue Canalverbindung soll neben der
schon bestehenden von Marseille zur unteren Rhône geschaffen, die
Stadt also dem Flusse näher gerückt, die billige Wasserstrasse gegen
die theure Gebirgsbahn in den Kampf geführt werden.

So weit wir die Geschichte Marseilles zurückverfolgen, zu allen
Zeiten war man bestrebt, dem Hafen ein möglichst grosses Hinter-
land als Absatz- und Handelsgebiet zu sichern. Seit den Tagen der
Römer ist Marseille der Endknotenpunkt eines Strassennetzes, das
fächerförmig nach West-Nord-Osten führt, bald im guten, bald im
schlechten Zustande war, aber immer den billigsten Träger des Verkehrs
abgab, weil andere Wege auch nicht besser waren. Seit Louis XIV.
sind diese französischen Strassen gut und sehr leistungsfähig; seit
1850—1860 treten auch hier die Eisenbahnen in ihre Rechte und
an wenig Plätzen Europas hat die Eisenbahnpolitik so viel zu leisten
als in Marseille.

Nach der Lage des Hafens müssen seine Bahnverbindungen zwei
Hauptrichtungen haben; die eine schlägt die Küstenlinie ein, die nach
Osten nach Genua, nach Westen über Nimes und Montpellier nach
Barcelona führt. Für die Verbindung nach dem Norden, die natürlich
wichtiger ist als die frühere, sorgt auch die grösste und reichste
der französischen Eisenbahngesellschaften, die Paris-, Lyon- und Mittel-
meerbahn, deren Netz zwischen den Linien Paris—Basel und Paris—
Cette liegt. Sie geht an der Rhône aufwärts nach dem wichtigen
Knotenpunkte Lyon, wo sie sich fächerartig in vier Linien spaltet.

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[402/0422] Das Mittelmeerbecken. todt geglaubt, Genua, ist aus dem Scheintode erwacht, um sich in wenig Jahren ein schönes Stück des Mittelmeerhandels zu erobern und zu sichern. Man beobachtet scharf alle Vorgänge in Genua, dem einzigen Rivalen, der zu fürchten ist, der nicht nur in nächster Nähe, son- dern auch im fernen Osten als Concurrent erscheint, der es am La Plata seit 1889 bereits ist. Nichts erscheint darum in Marseille als so unbedeutend, dass man es nicht beachtete und verfolgte. So hat in neuester Zeit die Thatsache, dass der „Neederland“ auf den Fahrten nach Java jetzt Genua statt Marseille anläuft, stutzig gemacht. Dar- über ist man sich aber vor Allem ganz klar, dass Genuas Aufschwung in erster Linie mit der Vollendung der Gotthardbahn, welche Marseille den Schweizer Handel und andere Beziehungen entriss, zusammen- hängt; man erkennt auch, dass der Bau einer Simplonbahn Genua nützen und Marseille mehr schaden wird, daher sinnt man auf Mittel, die drohende Vollendung der Bahn über den Simplon für Marseille unschädlich zu machen. Eine neue Canalverbindung soll neben der schon bestehenden von Marseille zur unteren Rhône geschaffen, die Stadt also dem Flusse näher gerückt, die billige Wasserstrasse gegen die theure Gebirgsbahn in den Kampf geführt werden. So weit wir die Geschichte Marseilles zurückverfolgen, zu allen Zeiten war man bestrebt, dem Hafen ein möglichst grosses Hinter- land als Absatz- und Handelsgebiet zu sichern. Seit den Tagen der Römer ist Marseille der Endknotenpunkt eines Strassennetzes, das fächerförmig nach West-Nord-Osten führt, bald im guten, bald im schlechten Zustande war, aber immer den billigsten Träger des Verkehrs abgab, weil andere Wege auch nicht besser waren. Seit Louis XIV. sind diese französischen Strassen gut und sehr leistungsfähig; seit 1850—1860 treten auch hier die Eisenbahnen in ihre Rechte und an wenig Plätzen Europas hat die Eisenbahnpolitik so viel zu leisten als in Marseille. Nach der Lage des Hafens müssen seine Bahnverbindungen zwei Hauptrichtungen haben; die eine schlägt die Küstenlinie ein, die nach Osten nach Genua, nach Westen über Nimes und Montpellier nach Barcelona führt. Für die Verbindung nach dem Norden, die natürlich wichtiger ist als die frühere, sorgt auch die grösste und reichste der französischen Eisenbahngesellschaften, die Paris-, Lyon- und Mittel- meerbahn, deren Netz zwischen den Linien Paris—Basel und Paris— Cette liegt. Sie geht an der Rhône aufwärts nach dem wichtigen Knotenpunkte Lyon, wo sie sich fächerartig in vier Linien spaltet.

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Zitationshilfe: Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehnert_seehaefen01_1891/422>, abgerufen am 22.11.2024.