Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Leskien, August: Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen. Leipzig, 1876.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung.
eint geblieben. Schleicher kam zu dieser Anschauung durch die Wahrnehmung
der verschiedenen Alterthümlichkeit der drei Gruppen, mit andern Worten, ihres
verschiedenen Verhältnisses zur Ursprache. Weil die nordeuropäische Gruppe
sich von dieser am weitesten entfernt, das soll hier aber nur heissen, die meisten
Verluste alten Sprachgutes erlitten und die meisten Neubildungen geschaffen hat
(s. Comp.3 7), so folgerte Schleicher, dass "die Slavodeutschen zuerst ihre Wan-
derung nach Westen antraten", sich am frühesten vom Urvolke abzweigten und
eine eigenartige Entwicklung bekamen. Dieser Schluss ist aber nicht zulässig,
denn die angegebene Art der Entfernung von der Ursprache giebt keinen Mass-
stab für eine frühere oder spätere Abzweigung von derselben. Die italischen
Sprachen stehen mindestens ebensoweit von der Ursprache ab wie die slavi-
schen, sowohl an Verlusten wie an Neubildungen; da es nun Schleicher fest-
stand, dass die italischen Sprachen zusammen mit dem Griechischen (und Kel-
tischen) sich abgezweigt haben, das Griechische von allen europäischen Sprachen
als die alterthümlichste in der Erhaltung der Formen erscheint, folgt nothwendig,
dass das bestehende Verhältniss zwischen Griechisch und Italisch und das ver-
schiedene Verhältniss des Italischen und Griechischen zur Ursprache nur das
Resultat einer ungleich schnellen Entwicklung sein kann, die von der Zeit der
Abscheidung aus der Ursprache ganz unabhängig ist. Also kann auch der weitere
Abstand der nordeuropäischen Sprachen von der Ursprache im Vergleich zum
Griechischen einfach auf einer anders gearteten, schnelleren Entwicklung be-
ruhen und beweist ebensowenig die frühere Trennung derselben, als die Alter-
thümlichkeit des Griechischen dessen und der ganzen südeuropäischen Abtheilung
längeren Zusammenhang mit der asiatischen. Es giebt ja überhaupt Beispiele
genug, dass selbst die Einzelsprachen einer Familie auf verschiedenem Boden,
was die Schnelligkeit der Entwicklung betrifft, sich ausserordentlich verschieden
verhalten, vgl. das Lettische mit dem Litauischen, das Bulgarische mit dem Ser-
bischen oder Russischen. Schleicher hätte nach den sonst von ihm befolgten
Grundsätzen der Vergleichung eigentlich bei einer Zerlegung des Sprachstammes
in drei Abtheilungen stehen bleiben müssen, und es scheint mir, dass er zu der
Ueberordnung einer Zweitheilung über die Dreitheilung nur gekommen ist durch
die Erfahrung, dass die unzweifelhaft feststehenden Gruppen, die asiatische und
die slavisch-litauische je in zwei Theile zerfallen. Aber dieser Vorgang ist nicht
zwingend. Geht man von der Vorstellung aus, dass Völker- und Sprachver-
schiedenheit durch räumliche Trennung eines einheitlichen Volkes und einer ein-
heitlichen Sprache entsteht, so ist eine dreifache Spaltung aus irgend welchen
äusseren Veranlassungen oder inneren Gründen ebensogut möglich wie eine
zwiefache. Obwohl die Beantwortung der Frage nach der Gruppirung der indo-
germanischen Sprachen jetzt eine andere Richtung genommen hat als bei Schlei-
cher, ist es doch immer noch nothwendig, scharf hervorzuheben, dass die relative
Alterthümlichkeit verschiedener indogermanischer Sprachen nicht als Kriterium
für Verwandtschaftsgrade benutzt werden darf, und dass die Zweitheilung nicht
etwas nothwendiges ist, sondern nur auf einem Analogieschluss und einer ge-
wissen allgemeinen Wahrscheinlichkeit beruht.

Einleitung.
eint geblieben. Schleicher kam zu dieser Anschauung durch die Wahrnehmung
der verschiedenen Alterthümlichkeit der drei Gruppen, mit andern Worten, ihres
verschiedenen Verhältnisses zur Ursprache. Weil die nordeuropäische Gruppe
sich von dieser am weitesten entfernt, das soll hier aber nur heissen, die meisten
Verluste alten Sprachgutes erlitten und die meisten Neubildungen geschaffen hat
(s. Comp.3 7), so folgerte Schleicher, dass «die Slavodeutschen zuerst ihre Wan-
derung nach Westen antraten», sich am frühesten vom Urvolke abzweigten und
eine eigenartige Entwicklung bekamen. Dieser Schluss ist aber nicht zulässig,
denn die angegebene Art der Entfernung von der Ursprache giebt keinen Mass-
stab für eine frühere oder spätere Abzweigung von derselben. Die italischen
Sprachen stehen mindestens ebensoweit von der Ursprache ab wie die slavi-
schen, sowohl an Verlusten wie an Neubildungen; da es nun Schleicher fest-
stand, dass die italischen Sprachen zusammen mit dem Griechischen (und Kel-
tischen) sich abgezweigt haben, das Griechische von allen europäischen Sprachen
als die alterthümlichste in der Erhaltung der Formen erscheint, folgt nothwendig,
dass das bestehende Verhältniss zwischen Griechisch und Italisch und das ver-
schiedene Verhältniss des Italischen und Griechischen zur Ursprache nur das
Resultat einer ungleich schnellen Entwicklung sein kann, die von der Zeit der
Abscheidung aus der Ursprache ganz unabhängig ist. Also kann auch der weitere
Abstand der nordeuropäischen Sprachen von der Ursprache im Vergleich zum
Griechischen einfach auf einer anders gearteten, schnelleren Entwicklung be-
ruhen und beweist ebensowenig die frühere Trennung derselben, als die Alter-
thümlichkeit des Griechischen dessen und der ganzen südeuropäischen Abtheilung
längeren Zusammenhang mit der asiatischen. Es giebt ja überhaupt Beispiele
genug, dass selbst die Einzelsprachen einer Familie auf verschiedenem Boden,
was die Schnelligkeit der Entwicklung betrifft, sich ausserordentlich verschieden
verhalten, vgl. das Lettische mit dem Litauischen, das Bulgarische mit dem Ser-
bischen oder Russischen. Schleicher hätte nach den sonst von ihm befolgten
Grundsätzen der Vergleichung eigentlich bei einer Zerlegung des Sprachstammes
in drei Abtheilungen stehen bleiben müssen, und es scheint mir, dass er zu der
Ueberordnung einer Zweitheilung über die Dreitheilung nur gekommen ist durch
die Erfahrung, dass die unzweifelhaft feststehenden Gruppen, die asiatische und
die slavisch-litauische je in zwei Theile zerfallen. Aber dieser Vorgang ist nicht
zwingend. Geht man von der Vorstellung aus, dass Völker- und Sprachver-
schiedenheit durch räumliche Trennung eines einheitlichen Volkes und einer ein-
heitlichen Sprache entsteht, so ist eine dreifache Spaltung aus irgend welchen
äusseren Veranlassungen oder inneren Gründen ebensogut möglich wie eine
zwiefache. Obwohl die Beantwortung der Frage nach der Gruppirung der indo-
germanischen Sprachen jetzt eine andere Richtung genommen hat als bei Schlei-
cher, ist es doch immer noch nothwendig, scharf hervorzuheben, dass die relative
Alterthümlichkeit verschiedener indogermanischer Sprachen nicht als Kriterium
für Verwandtschaftsgrade benutzt werden darf, und dass die Zweitheilung nicht
etwas nothwendiges ist, sondern nur auf einem Analogieschluss und einer ge-
wissen allgemeinen Wahrscheinlichkeit beruht.

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0012" n="VI"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#k">Einleitung</hi>.</fw><lb/>
eint geblieben. Schleicher kam zu dieser Anschauung durch die Wahrnehmung<lb/>
der verschiedenen Alterthümlichkeit der drei Gruppen, mit andern Worten, ihres<lb/>
verschiedenen Verhältnisses zur Ursprache. Weil die nordeuropäische Gruppe<lb/>
sich von dieser am weitesten entfernt, das soll hier aber nur heissen, die meisten<lb/>
Verluste alten Sprachgutes erlitten und die meisten Neubildungen geschaffen hat<lb/>
(s. Comp.<hi rendition="#sup">3</hi> 7), so folgerte Schleicher, dass «die Slavodeutschen zuerst ihre Wan-<lb/>
derung nach Westen antraten», sich am frühesten vom Urvolke abzweigten und<lb/>
eine eigenartige Entwicklung bekamen. Dieser Schluss ist aber nicht zulässig,<lb/>
denn die angegebene Art der Entfernung von der Ursprache giebt keinen Mass-<lb/>
stab für eine frühere oder spätere Abzweigung von derselben. Die italischen<lb/>
Sprachen stehen mindestens ebensoweit von der Ursprache ab wie die slavi-<lb/>
schen, sowohl an Verlusten wie an Neubildungen; da es nun Schleicher fest-<lb/>
stand, dass die italischen Sprachen zusammen mit dem Griechischen (und Kel-<lb/>
tischen) sich abgezweigt haben, das Griechische von allen europäischen Sprachen<lb/>
als die alterthümlichste in der Erhaltung der Formen erscheint, folgt nothwendig,<lb/>
dass das bestehende Verhältniss zwischen Griechisch und Italisch und das ver-<lb/>
schiedene Verhältniss des Italischen und Griechischen zur Ursprache nur das<lb/>
Resultat einer ungleich schnellen Entwicklung sein kann, die von der Zeit der<lb/>
Abscheidung aus der Ursprache ganz unabhängig ist. Also kann auch der weitere<lb/>
Abstand der nordeuropäischen Sprachen von der Ursprache im Vergleich zum<lb/>
Griechischen einfach auf einer anders gearteten, schnelleren Entwicklung be-<lb/>
ruhen und beweist ebensowenig die frühere Trennung derselben, als die Alter-<lb/>
thümlichkeit des Griechischen dessen und der ganzen südeuropäischen Abtheilung<lb/>
längeren Zusammenhang mit der asiatischen. Es giebt ja überhaupt Beispiele<lb/>
genug, dass selbst die Einzelsprachen <hi rendition="#g">einer</hi> Familie auf verschiedenem Boden,<lb/>
was die Schnelligkeit der Entwicklung betrifft, sich ausserordentlich verschieden<lb/>
verhalten, vgl. das Lettische mit dem Litauischen, das Bulgarische mit dem Ser-<lb/>
bischen oder Russischen. Schleicher hätte nach den sonst von ihm befolgten<lb/>
Grundsätzen der Vergleichung eigentlich bei einer Zerlegung des Sprachstammes<lb/>
in drei Abtheilungen stehen bleiben müssen, und es scheint mir, dass er zu der<lb/>
Ueberordnung einer Zweitheilung über die Dreitheilung nur gekommen ist durch<lb/>
die Erfahrung, dass die unzweifelhaft feststehenden Gruppen, die asiatische und<lb/>
die slavisch-litauische je in zwei Theile zerfallen. Aber dieser Vorgang ist nicht<lb/>
zwingend. Geht man von der Vorstellung aus, dass Völker- und Sprachver-<lb/>
schiedenheit durch räumliche Trennung eines einheitlichen Volkes und einer ein-<lb/>
heitlichen Sprache entsteht, so ist eine dreifache Spaltung aus irgend welchen<lb/>
äusseren Veranlassungen oder inneren Gründen ebensogut möglich wie eine<lb/>
zwiefache. Obwohl die Beantwortung der Frage nach der Gruppirung der indo-<lb/>
germanischen Sprachen jetzt eine andere Richtung genommen hat als bei Schlei-<lb/>
cher, ist es doch immer noch nothwendig, scharf hervorzuheben, dass die relative<lb/>
Alterthümlichkeit verschiedener indogermanischer Sprachen nicht als Kriterium<lb/>
für Verwandtschaftsgrade benutzt werden darf, und dass die Zweitheilung nicht<lb/>
etwas nothwendiges ist, sondern nur auf einem Analogieschluss und einer ge-<lb/>
wissen allgemeinen Wahrscheinlichkeit beruht.</p><lb/>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[VI/0012] Einleitung. eint geblieben. Schleicher kam zu dieser Anschauung durch die Wahrnehmung der verschiedenen Alterthümlichkeit der drei Gruppen, mit andern Worten, ihres verschiedenen Verhältnisses zur Ursprache. Weil die nordeuropäische Gruppe sich von dieser am weitesten entfernt, das soll hier aber nur heissen, die meisten Verluste alten Sprachgutes erlitten und die meisten Neubildungen geschaffen hat (s. Comp.3 7), so folgerte Schleicher, dass «die Slavodeutschen zuerst ihre Wan- derung nach Westen antraten», sich am frühesten vom Urvolke abzweigten und eine eigenartige Entwicklung bekamen. Dieser Schluss ist aber nicht zulässig, denn die angegebene Art der Entfernung von der Ursprache giebt keinen Mass- stab für eine frühere oder spätere Abzweigung von derselben. Die italischen Sprachen stehen mindestens ebensoweit von der Ursprache ab wie die slavi- schen, sowohl an Verlusten wie an Neubildungen; da es nun Schleicher fest- stand, dass die italischen Sprachen zusammen mit dem Griechischen (und Kel- tischen) sich abgezweigt haben, das Griechische von allen europäischen Sprachen als die alterthümlichste in der Erhaltung der Formen erscheint, folgt nothwendig, dass das bestehende Verhältniss zwischen Griechisch und Italisch und das ver- schiedene Verhältniss des Italischen und Griechischen zur Ursprache nur das Resultat einer ungleich schnellen Entwicklung sein kann, die von der Zeit der Abscheidung aus der Ursprache ganz unabhängig ist. Also kann auch der weitere Abstand der nordeuropäischen Sprachen von der Ursprache im Vergleich zum Griechischen einfach auf einer anders gearteten, schnelleren Entwicklung be- ruhen und beweist ebensowenig die frühere Trennung derselben, als die Alter- thümlichkeit des Griechischen dessen und der ganzen südeuropäischen Abtheilung längeren Zusammenhang mit der asiatischen. Es giebt ja überhaupt Beispiele genug, dass selbst die Einzelsprachen einer Familie auf verschiedenem Boden, was die Schnelligkeit der Entwicklung betrifft, sich ausserordentlich verschieden verhalten, vgl. das Lettische mit dem Litauischen, das Bulgarische mit dem Ser- bischen oder Russischen. Schleicher hätte nach den sonst von ihm befolgten Grundsätzen der Vergleichung eigentlich bei einer Zerlegung des Sprachstammes in drei Abtheilungen stehen bleiben müssen, und es scheint mir, dass er zu der Ueberordnung einer Zweitheilung über die Dreitheilung nur gekommen ist durch die Erfahrung, dass die unzweifelhaft feststehenden Gruppen, die asiatische und die slavisch-litauische je in zwei Theile zerfallen. Aber dieser Vorgang ist nicht zwingend. Geht man von der Vorstellung aus, dass Völker- und Sprachver- schiedenheit durch räumliche Trennung eines einheitlichen Volkes und einer ein- heitlichen Sprache entsteht, so ist eine dreifache Spaltung aus irgend welchen äusseren Veranlassungen oder inneren Gründen ebensogut möglich wie eine zwiefache. Obwohl die Beantwortung der Frage nach der Gruppirung der indo- germanischen Sprachen jetzt eine andere Richtung genommen hat als bei Schlei- cher, ist es doch immer noch nothwendig, scharf hervorzuheben, dass die relative Alterthümlichkeit verschiedener indogermanischer Sprachen nicht als Kriterium für Verwandtschaftsgrade benutzt werden darf, und dass die Zweitheilung nicht etwas nothwendiges ist, sondern nur auf einem Analogieschluss und einer ge- wissen allgemeinen Wahrscheinlichkeit beruht.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/leskien_declination_1876
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/leskien_declination_1876/12
Zitationshilfe: Leskien, August: Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen. Leipzig, 1876, S. VI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/leskien_declination_1876/12>, abgerufen am 21.11.2024.