nicht interessanter. Immerhin mögen ganze Völker darein verwickelt werden; unsere Sym- pathie erfodert einen einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen.
"Man thut dem menschlichen Herze Unrecht,
sagt auch Mormontel,
man verkennet die Na- tur, wenn man glaubt, daß sie Titel bedürfe, uns zu bewegen und zu rühren. Die geheiligten Namen des Freundes, des Vaters, des Gelieb- ten, des Gatten, des Sohnes, der Mutter, des Menschen überhaupt: diese sind pathetischer, als alles; diese behaupten ihre Rechte immer und ewig. Was liegt daran, welches der Rang, der Geschlechtsname, die Geburt des Unglück- lichen ist, den seine Gefälligkeit gegen unwür- dige Freunde, und das verführerische Beyspiel, ins Spiel verstricket, der seinen Wohlstand und seine Ehre darüber zu Grunde gerichtet, und nun im Gefängnisse seufzet, von Scham und Reue zerrissen? Wenn man fragt, wer er ist; so antworte ich: er war ein ehrlicher Mann, und zu seiner Marter ist er Gemahl und Vater; seine Gattinn, die er liebt und von der er geliebt wird, schmachtet in der äußersten Bedürfniß, und kann ihren Kindern, welche Brod verlangen, nichts als Thränen geben. Man zeige mir in der Ge- schichte der Helden eine rührendere, moralischere, mit einem Worte, tragischere Situation! Und
wenn
nicht intereſſanter. Immerhin moͤgen ganze Voͤlker darein verwickelt werden; unſere Sym- pathie erfodert einen einzeln Gegenſtand, und ein Staat iſt ein viel zu abſtrakter Begriff fuͤr unſere Empfindungen.
„Man thut dem menſchlichen Herze Unrecht,
ſagt auch Mormontel,
man verkennet die Na- tur, wenn man glaubt, daß ſie Titel beduͤrfe, uns zu bewegen und zu ruͤhren. Die geheiligten Namen des Freundes, des Vaters, des Gelieb- ten, des Gatten, des Sohnes, der Mutter, des Menſchen uͤberhaupt: dieſe ſind pathetiſcher, als alles; dieſe behaupten ihre Rechte immer und ewig. Was liegt daran, welches der Rang, der Geſchlechtsname, die Geburt des Ungluͤck- lichen iſt, den ſeine Gefaͤlligkeit gegen unwuͤr- dige Freunde, und das verfuͤhreriſche Beyſpiel, ins Spiel verſtricket, der ſeinen Wohlſtand und ſeine Ehre daruͤber zu Grunde gerichtet, und nun im Gefaͤngniſſe ſeufzet, von Scham und Reue zerriſſen? Wenn man fragt, wer er iſt; ſo antworte ich: er war ein ehrlicher Mann, und zu ſeiner Marter iſt er Gemahl und Vater; ſeine Gattinn, die er liebt und von der er geliebt wird, ſchmachtet in der aͤußerſten Beduͤrfniß, und kann ihren Kindern, welche Brod verlangen, nichts als Thraͤnen geben. Man zeige mir in der Ge- ſchichte der Helden eine ruͤhrendere, moraliſchere, mit einem Worte, tragiſchere Situation! Und
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nicht intereſſanter. Immerhin moͤgen ganze
Voͤlker darein verwickelt werden; unſere Sym-
pathie erfodert einen einzeln Gegenſtand, und
ein Staat iſt ein viel zu abſtrakter Begriff fuͤr
unſere Empfindungen.
„Man thut dem menſchlichen Herze Unrecht,
ſagt auch Mormontel,
man verkennet die Na-
tur, wenn man glaubt, daß ſie Titel beduͤrfe,
uns zu bewegen und zu ruͤhren. Die geheiligten
Namen des Freundes, des Vaters, des Gelieb-
ten, des Gatten, des Sohnes, der Mutter,
des Menſchen uͤberhaupt: dieſe ſind pathetiſcher,
als alles; dieſe behaupten ihre Rechte immer und
ewig. Was liegt daran, welches der Rang,
der Geſchlechtsname, die Geburt des Ungluͤck-
lichen iſt, den ſeine Gefaͤlligkeit gegen unwuͤr-
dige Freunde, und das verfuͤhreriſche Beyſpiel,
ins Spiel verſtricket, der ſeinen Wohlſtand und
ſeine Ehre daruͤber zu Grunde gerichtet, und
nun im Gefaͤngniſſe ſeufzet, von Scham und
Reue zerriſſen? Wenn man fragt, wer er iſt;
ſo antworte ich: er war ein ehrlicher Mann, und
zu ſeiner Marter iſt er Gemahl und Vater; ſeine
Gattinn, die er liebt und von der er geliebt wird,
ſchmachtet in der aͤußerſten Beduͤrfniß, und kann
ihren Kindern, welche Brod verlangen, nichts
als Thraͤnen geben. Man zeige mir in der Ge-
ſchichte der Helden eine ruͤhrendere, moraliſchere,
mit einem Worte, tragiſchere Situation! Und
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/120>, abgerufen am 21.11.2024.
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