Doch so wie das Stück ist, scheinet es für uns Deutsche recht gut zu seyn. Wir mögen eine Raserey gern mit ein wenig Philosophie bemän- teln, und finden es unserer Ehre eben nicht nach- theilig, wenn man uns von einem dummen Streiche zurückhält, und das Geständniß, falsch philosophirt zu haben, uns abgewinnet. Wir werden daher dem Dümont, ob er gleich ein französischer Prahler ist, so herzlich gut, daß uns die Etiquette, welche der Dichter mit ihm beobachtet, beleidiget. Denn indem es Sidney nun erfährt, daß er durch die Vorsicht desselben dem Tode nicht näher ist, als der gesundesten einer, so läßt ihn Gresset ausrufen: "Kaum kann ich es glauben -- Rosalia! -- Hamilton! -- und du, dessen glücklicher Eifer u. s. w." Warum diese Rangordnung? Ist es erlaubt, die Dankbarkeit der Politesse aufzuopfern? Der Bediente hat ihn gerettet; dem Bedienten ge- hört das erste Wort, der erste Ausdruck der Freude, so Bedienter, so weit unter seinem Herrn und seines Herrn Freunden, er auch immer ist. Wenn ich Schauspieler wäre, hier würde ich es kühnlich wagen, zu thun, was der Dich- ter hätte thun sollen. Wenn ich schon, wider seine Vorschrift, nicht das erste Wort an meinen Erretter richten dürfte, so würde ich ihm wenig- sten den ersten gerührten Blick zuschicken, mit der ersten dankbaren Umarmung auf ihn zueilen;
und
Doch ſo wie das Stuͤck iſt, ſcheinet es fuͤr uns Deutſche recht gut zu ſeyn. Wir moͤgen eine Raſerey gern mit ein wenig Philoſophie bemaͤn- teln, und finden es unſerer Ehre eben nicht nach- theilig, wenn man uns von einem dummen Streiche zuruͤckhaͤlt, und das Geſtaͤndniß, falſch philoſophirt zu haben, uns abgewinnet. Wir werden daher dem Duͤmont, ob er gleich ein franzoͤſiſcher Prahler iſt, ſo herzlich gut, daß uns die Etiquette, welche der Dichter mit ihm beobachtet, beleidiget. Denn indem es Sidney nun erfaͤhrt, daß er durch die Vorſicht deſſelben dem Tode nicht naͤher iſt, als der geſundeſten einer, ſo laͤßt ihn Greſſet ausrufen: „Kaum kann ich es glauben — Roſalia! — Hamilton! — und du, deſſen gluͤcklicher Eifer u. ſ. w.„ Warum dieſe Rangordnung? Iſt es erlaubt, die Dankbarkeit der Politeſſe aufzuopfern? Der Bediente hat ihn gerettet; dem Bedienten ge- hoͤrt das erſte Wort, der erſte Ausdruck der Freude, ſo Bedienter, ſo weit unter ſeinem Herrn und ſeines Herrn Freunden, er auch immer iſt. Wenn ich Schauſpieler waͤre, hier wuͤrde ich es kuͤhnlich wagen, zu thun, was der Dich- ter haͤtte thun ſollen. Wenn ich ſchon, wider ſeine Vorſchrift, nicht das erſte Wort an meinen Erretter richten duͤrfte, ſo wuͤrde ich ihm wenig- ſten den erſten geruͤhrten Blick zuſchicken, mit der erſten dankbaren Umarmung auf ihn zueilen;
und
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0144"n="130"/><p>Doch ſo wie das Stuͤck iſt, ſcheinet es fuͤr uns<lb/>
Deutſche recht gut zu ſeyn. Wir moͤgen eine<lb/>
Raſerey gern mit ein wenig Philoſophie bemaͤn-<lb/>
teln, und finden es unſerer Ehre eben nicht nach-<lb/>
theilig, wenn man uns von einem dummen<lb/>
Streiche zuruͤckhaͤlt, und das Geſtaͤndniß, falſch<lb/>
philoſophirt zu haben, uns abgewinnet. Wir<lb/>
werden daher dem Duͤmont, ob er gleich ein<lb/>
franzoͤſiſcher Prahler iſt, ſo herzlich gut, daß<lb/>
uns die Etiquette, welche der Dichter mit ihm<lb/>
beobachtet, beleidiget. Denn indem es Sidney<lb/>
nun erfaͤhrt, daß er durch die Vorſicht deſſelben<lb/>
dem Tode nicht naͤher iſt, als der geſundeſten<lb/>
einer, ſo laͤßt ihn Greſſet ausrufen: <cit><quote>„Kaum<lb/>
kann ich es glauben — Roſalia! — Hamilton! —<lb/>
und du, deſſen gluͤcklicher Eifer u. ſ. w.„</quote></cit><lb/>
Warum dieſe Rangordnung? Iſt es erlaubt,<lb/>
die Dankbarkeit der Politeſſe aufzuopfern? Der<lb/>
Bediente hat ihn gerettet; dem Bedienten ge-<lb/>
hoͤrt das erſte Wort, der erſte Ausdruck der<lb/>
Freude, ſo Bedienter, ſo weit unter ſeinem<lb/>
Herrn und ſeines Herrn Freunden, er auch immer<lb/>
iſt. Wenn ich Schauſpieler waͤre, hier wuͤrde<lb/>
ich es kuͤhnlich wagen, zu thun, was der Dich-<lb/>
ter haͤtte thun ſollen. Wenn ich ſchon, wider<lb/>ſeine Vorſchrift, nicht das erſte Wort an meinen<lb/>
Erretter richten duͤrfte, ſo wuͤrde ich ihm wenig-<lb/>ſten den erſten geruͤhrten Blick zuſchicken, mit<lb/>
der erſten dankbaren Umarmung auf ihn zueilen;<lb/><fwplace="bottom"type="catch">und</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[130/0144]
Doch ſo wie das Stuͤck iſt, ſcheinet es fuͤr uns
Deutſche recht gut zu ſeyn. Wir moͤgen eine
Raſerey gern mit ein wenig Philoſophie bemaͤn-
teln, und finden es unſerer Ehre eben nicht nach-
theilig, wenn man uns von einem dummen
Streiche zuruͤckhaͤlt, und das Geſtaͤndniß, falſch
philoſophirt zu haben, uns abgewinnet. Wir
werden daher dem Duͤmont, ob er gleich ein
franzoͤſiſcher Prahler iſt, ſo herzlich gut, daß
uns die Etiquette, welche der Dichter mit ihm
beobachtet, beleidiget. Denn indem es Sidney
nun erfaͤhrt, daß er durch die Vorſicht deſſelben
dem Tode nicht naͤher iſt, als der geſundeſten
einer, ſo laͤßt ihn Greſſet ausrufen: „Kaum
kann ich es glauben — Roſalia! — Hamilton! —
und du, deſſen gluͤcklicher Eifer u. ſ. w.„
Warum dieſe Rangordnung? Iſt es erlaubt,
die Dankbarkeit der Politeſſe aufzuopfern? Der
Bediente hat ihn gerettet; dem Bedienten ge-
hoͤrt das erſte Wort, der erſte Ausdruck der
Freude, ſo Bedienter, ſo weit unter ſeinem
Herrn und ſeines Herrn Freunden, er auch immer
iſt. Wenn ich Schauſpieler waͤre, hier wuͤrde
ich es kuͤhnlich wagen, zu thun, was der Dich-
ter haͤtte thun ſollen. Wenn ich ſchon, wider
ſeine Vorſchrift, nicht das erſte Wort an meinen
Erretter richten duͤrfte, ſo wuͤrde ich ihm wenig-
ſten den erſten geruͤhrten Blick zuſchicken, mit
der erſten dankbaren Umarmung auf ihn zueilen;
und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/144>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.