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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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Doch so wie das Stück ist, scheinet es für uns
Deutsche recht gut zu seyn. Wir mögen eine
Raserey gern mit ein wenig Philosophie bemän-
teln, und finden es unserer Ehre eben nicht nach-
theilig, wenn man uns von einem dummen
Streiche zurückhält, und das Geständniß, falsch
philosophirt zu haben, uns abgewinnet. Wir
werden daher dem Dümont, ob er gleich ein
französischer Prahler ist, so herzlich gut, daß
uns die Etiquette, welche der Dichter mit ihm
beobachtet, beleidiget. Denn indem es Sidney
nun erfährt, daß er durch die Vorsicht desselben
dem Tode nicht näher ist, als der gesundesten
einer, so läßt ihn Gresset ausrufen: "Kaum
kann ich es glauben -- Rosalia! -- Hamilton! --
und du, dessen glücklicher Eifer u. s. w."

Warum diese Rangordnung? Ist es erlaubt,
die Dankbarkeit der Politesse aufzuopfern? Der
Bediente hat ihn gerettet; dem Bedienten ge-
hört das erste Wort, der erste Ausdruck der
Freude, so Bedienter, so weit unter seinem
Herrn und seines Herrn Freunden, er auch immer
ist. Wenn ich Schauspieler wäre, hier würde
ich es kühnlich wagen, zu thun, was der Dich-
ter hätte thun sollen. Wenn ich schon, wider
seine Vorschrift, nicht das erste Wort an meinen
Erretter richten dürfte, so würde ich ihm wenig-
sten den ersten gerührten Blick zuschicken, mit
der ersten dankbaren Umarmung auf ihn zueilen;

und

Doch ſo wie das Stuͤck iſt, ſcheinet es fuͤr uns
Deutſche recht gut zu ſeyn. Wir moͤgen eine
Raſerey gern mit ein wenig Philoſophie bemaͤn-
teln, und finden es unſerer Ehre eben nicht nach-
theilig, wenn man uns von einem dummen
Streiche zuruͤckhaͤlt, und das Geſtaͤndniß, falſch
philoſophirt zu haben, uns abgewinnet. Wir
werden daher dem Duͤmont, ob er gleich ein
franzoͤſiſcher Prahler iſt, ſo herzlich gut, daß
uns die Etiquette, welche der Dichter mit ihm
beobachtet, beleidiget. Denn indem es Sidney
nun erfaͤhrt, daß er durch die Vorſicht deſſelben
dem Tode nicht naͤher iſt, als der geſundeſten
einer, ſo laͤßt ihn Greſſet ausrufen: „Kaum
kann ich es glauben — Roſalia! — Hamilton! —
und du, deſſen gluͤcklicher Eifer u. ſ. w.„

Warum dieſe Rangordnung? Iſt es erlaubt,
die Dankbarkeit der Politeſſe aufzuopfern? Der
Bediente hat ihn gerettet; dem Bedienten ge-
hoͤrt das erſte Wort, der erſte Ausdruck der
Freude, ſo Bedienter, ſo weit unter ſeinem
Herrn und ſeines Herrn Freunden, er auch immer
iſt. Wenn ich Schauſpieler waͤre, hier wuͤrde
ich es kuͤhnlich wagen, zu thun, was der Dich-
ter haͤtte thun ſollen. Wenn ich ſchon, wider
ſeine Vorſchrift, nicht das erſte Wort an meinen
Erretter richten duͤrfte, ſo wuͤrde ich ihm wenig-
ſten den erſten geruͤhrten Blick zuſchicken, mit
der erſten dankbaren Umarmung auf ihn zueilen;

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[130/0144] Doch ſo wie das Stuͤck iſt, ſcheinet es fuͤr uns Deutſche recht gut zu ſeyn. Wir moͤgen eine Raſerey gern mit ein wenig Philoſophie bemaͤn- teln, und finden es unſerer Ehre eben nicht nach- theilig, wenn man uns von einem dummen Streiche zuruͤckhaͤlt, und das Geſtaͤndniß, falſch philoſophirt zu haben, uns abgewinnet. Wir werden daher dem Duͤmont, ob er gleich ein franzoͤſiſcher Prahler iſt, ſo herzlich gut, daß uns die Etiquette, welche der Dichter mit ihm beobachtet, beleidiget. Denn indem es Sidney nun erfaͤhrt, daß er durch die Vorſicht deſſelben dem Tode nicht naͤher iſt, als der geſundeſten einer, ſo laͤßt ihn Greſſet ausrufen: „Kaum kann ich es glauben — Roſalia! — Hamilton! — und du, deſſen gluͤcklicher Eifer u. ſ. w.„ Warum dieſe Rangordnung? Iſt es erlaubt, die Dankbarkeit der Politeſſe aufzuopfern? Der Bediente hat ihn gerettet; dem Bedienten ge- hoͤrt das erſte Wort, der erſte Ausdruck der Freude, ſo Bedienter, ſo weit unter ſeinem Herrn und ſeines Herrn Freunden, er auch immer iſt. Wenn ich Schauſpieler waͤre, hier wuͤrde ich es kuͤhnlich wagen, zu thun, was der Dich- ter haͤtte thun ſollen. Wenn ich ſchon, wider ſeine Vorſchrift, nicht das erſte Wort an meinen Erretter richten duͤrfte, ſo wuͤrde ich ihm wenig- ſten den erſten geruͤhrten Blick zuſchicken, mit der erſten dankbaren Umarmung auf ihn zueilen; und

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/144>, abgerufen am 21.11.2024.