todt, Gottsched ist auch todt: ich dächte, wir zögen ihm das Jäckchen wieder an. -- Im Ern- ste; wenn er unter fremdem Namen zu dulden ist, warum nicht auch unter seinem? "Er ist ein ausländisches Geschöpf;" sagt man. Was thut das? Ich wollte, daß alle Narren unter uns Ausländer wären! "Er trägt sich, wie sich kein Mensch unter uns trägt:" -- so braucht er nicht erst lange zu sagen, wer er ist. "Es ist widersinnig, das nehmliche Individuum alle Tage in einem andern Stücke erscheinen zu sehen." Man muß ihn als kein Individuum, sondern als eine ganze Gattung betrachten; es ist nicht Harlekin, der heute im Timon, morgen im Falken, übermorgen in den falschen Vertrau- lichkeiten, wie ein wahrer Hans in allen Gassen, vorkömmt; sondern es sind Harlekine; die Gat- tung leidet tausend Varietäten; der im Timon ist nicht der im Falken; jener lebte in Griechen- land, dieser in Frankreich; nur weil ihr Cha- rakter einerley Hauptzüge hat, hat man ihnen einerley Namen gelassen. Warum wollen wir eckler, in unsern Vergnügungen wähliger, und gegen kahle Vernünfteleyen nachgebender seyn, als -- ich will nicht sagen, die Franzosen und Italiener sind -- sondern, als selbst die Römer und Griechen waren? War ihr Parasit etwas anders, als der Harlekin? Hatte er nicht auch seine eigene, besondere Tracht, in der er in ei-
nem
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todt, Gottſched iſt auch todt: ich daͤchte, wir zoͤgen ihm das Jaͤckchen wieder an. — Im Ern- ſte; wenn er unter fremdem Namen zu dulden iſt, warum nicht auch unter ſeinem? „Er iſt ein auslaͤndiſches Geſchoͤpf;„ ſagt man. Was thut das? Ich wollte, daß alle Narren unter uns Auslaͤnder waͤren! „Er traͤgt ſich, wie ſich kein Menſch unter uns traͤgt:„ — ſo braucht er nicht erſt lange zu ſagen, wer er iſt. „Es iſt widerſinnig, das nehmliche Individuum alle Tage in einem andern Stuͤcke erſcheinen zu ſehen.„ Man muß ihn als kein Individuum, ſondern als eine ganze Gattung betrachten; es iſt nicht Harlekin, der heute im Timon, morgen im Falken, uͤbermorgen in den falſchen Vertrau- lichkeiten, wie ein wahrer Hans in allen Gaſſen, vorkoͤmmt; ſondern es ſind Harlekine; die Gat- tung leidet tauſend Varietaͤten; der im Timon iſt nicht der im Falken; jener lebte in Griechen- land, dieſer in Frankreich; nur weil ihr Cha- rakter einerley Hauptzuͤge hat, hat man ihnen einerley Namen gelaſſen. Warum wollen wir eckler, in unſern Vergnuͤgungen waͤhliger, und gegen kahle Vernuͤnfteleyen nachgebender ſeyn, als — ich will nicht ſagen, die Franzoſen und Italiener ſind — ſondern, als ſelbſt die Roͤmer und Griechen waren? War ihr Paraſit etwas anders, als der Harlekin? Hatte er nicht auch ſeine eigene, beſondere Tracht, in der er in ei-
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todt, Gottſched iſt auch todt: ich daͤchte, wir
zoͤgen ihm das Jaͤckchen wieder an. — Im Ern-
ſte; wenn er unter fremdem Namen zu dulden
iſt, warum nicht auch unter ſeinem? „Er iſt ein
auslaͤndiſches Geſchoͤpf;„ ſagt man. Was
thut das? Ich wollte, daß alle Narren unter
uns Auslaͤnder waͤren! „Er traͤgt ſich, wie ſich
kein Menſch unter uns traͤgt:„ — ſo braucht er
nicht erſt lange zu ſagen, wer er iſt. „Es iſt
widerſinnig, das nehmliche Individuum alle
Tage in einem andern Stuͤcke erſcheinen zu
ſehen.„ Man muß ihn als kein Individuum,
ſondern als eine ganze Gattung betrachten; es
iſt nicht Harlekin, der heute im Timon, morgen
im Falken, uͤbermorgen in den falſchen Vertrau-
lichkeiten, wie ein wahrer Hans in allen Gaſſen,
vorkoͤmmt; ſondern es ſind Harlekine; die Gat-
tung leidet tauſend Varietaͤten; der im Timon
iſt nicht der im Falken; jener lebte in Griechen-
land, dieſer in Frankreich; nur weil ihr Cha-
rakter einerley Hauptzuͤge hat, hat man ihnen
einerley Namen gelaſſen. Warum wollen wir
eckler, in unſern Vergnuͤgungen waͤhliger, und
gegen kahle Vernuͤnfteleyen nachgebender ſeyn,
als — ich will nicht ſagen, die Franzoſen und
Italiener ſind — ſondern, als ſelbſt die Roͤmer
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/153>, abgerufen am 21.11.2024.
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