Ruhm mehr auf das, was er, nach dem Urtheile seiner Freunde, für dieselbe noch hätte leisten können, als was er wirklich geleistet hat. Und welcher dramatische Dichter, aus allen Zeiten und Nationen, hätte in seinem sechs und zwan- zigsten Jahre sterben können, ohne die Kritik über seine wahren Talente nicht eben so zweifel- haft zu lassen?
Der Stoff ist die bekannte Episode beym Tasso. Eine kleine rührende Erzehlung in ein rührendes Drama umzuschaffen, ist so leicht nicht. Zwar kostet es wenig Mühe, neue Verwickelungen zu erdenken, und einzelne Empfindungen in Scenen auszudehnen. Aber zu verhüten wissen, daß diese neue Verwickelungen weder das Interesse schwächen, noch der Wahrscheinlichkeit Eintrag thun; sich aus dem Gesichtspunkte des Erzehlers in den wahren Standort einer jeden Person ver- setzen können; die Leidenschaften, nicht beschrei- ben, sondern vor den Augen des Zuschauers ent- stehen, und ohne Sprung, in einer so illusori- schen Stetigkeit wachsen zu lassen, daß dieser sym- pathisiren muß, er mag wollen oder nicht: das ist es, was dazu nöthig ist; was das Genie, ohne es zu wissen, ohne es sich langweilig zu erklären, thut, und was der blos witzige Kopf nachzu- machen, vergebens sich martert.
Tasso
Ruhm mehr auf das, was er, nach dem Urtheile ſeiner Freunde, fuͤr dieſelbe noch haͤtte leiſten koͤnnen, als was er wirklich geleiſtet hat. Und welcher dramatiſche Dichter, aus allen Zeiten und Nationen, haͤtte in ſeinem ſechs und zwan- zigſten Jahre ſterben koͤnnen, ohne die Kritik uͤber ſeine wahren Talente nicht eben ſo zweifel- haft zu laſſen?
Der Stoff iſt die bekannte Epiſode beym Taſſo. Eine kleine ruͤhrende Erzehlung in ein ruͤhrendes Drama umzuſchaffen, iſt ſo leicht nicht. Zwar koſtet es wenig Muͤhe, neue Verwickelungen zu erdenken, und einzelne Empfindungen in Scenen auszudehnen. Aber zu verhuͤten wiſſen, daß dieſe neue Verwickelungen weder das Intereſſe ſchwaͤchen, noch der Wahrſcheinlichkeit Eintrag thun; ſich aus dem Geſichtspunkte des Erzehlers in den wahren Standort einer jeden Perſon ver- ſetzen koͤnnen; die Leidenſchaften, nicht beſchrei- ben, ſondern vor den Augen des Zuſchauers ent- ſtehen, und ohne Sprung, in einer ſo illuſori- ſchen Stetigkeit wachſen zu laſſen, daß dieſer ſym- pathiſiren muß, er mag wollen oder nicht: das iſt es, was dazu noͤthig iſt; was das Genie, ohne es zu wiſſen, ohne es ſich langweilig zu erklaͤren, thut, und was der blos witzige Kopf nachzu- machen, vergebens ſich martert.
Taſſo
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[2/0016]
Ruhm mehr auf das, was er, nach dem Urtheile
ſeiner Freunde, fuͤr dieſelbe noch haͤtte leiſten
koͤnnen, als was er wirklich geleiſtet hat. Und
welcher dramatiſche Dichter, aus allen Zeiten
und Nationen, haͤtte in ſeinem ſechs und zwan-
zigſten Jahre ſterben koͤnnen, ohne die Kritik
uͤber ſeine wahren Talente nicht eben ſo zweifel-
haft zu laſſen?
Der Stoff iſt die bekannte Epiſode beym Taſſo.
Eine kleine ruͤhrende Erzehlung in ein ruͤhrendes
Drama umzuſchaffen, iſt ſo leicht nicht. Zwar
koſtet es wenig Muͤhe, neue Verwickelungen zu
erdenken, und einzelne Empfindungen in Scenen
auszudehnen. Aber zu verhuͤten wiſſen, daß
dieſe neue Verwickelungen weder das Intereſſe
ſchwaͤchen, noch der Wahrſcheinlichkeit Eintrag
thun; ſich aus dem Geſichtspunkte des Erzehlers
in den wahren Standort einer jeden Perſon ver-
ſetzen koͤnnen; die Leidenſchaften, nicht beſchrei-
ben, ſondern vor den Augen des Zuſchauers ent-
ſtehen, und ohne Sprung, in einer ſo illuſori-
ſchen Stetigkeit wachſen zu laſſen, daß dieſer ſym-
pathiſiren muß, er mag wollen oder nicht: das iſt
es, was dazu noͤthig iſt; was das Genie, ohne
es zu wiſſen, ohne es ſich langweilig zu erklaͤren,
thut, und was der blos witzige Kopf nachzu-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/16>, abgerufen am 21.11.2024.
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