Nun hat es Aristoteles längst entschieden, wie weit sich der tragische Dichter um die histo- rische Wahrheit zu bekümmern habe; nicht wei- ter, als sie einer wohleingerichteten Fabel ähn- lich ist, mit der er seine Absichten verbinden kann. Er braucht eine Geschichte nicht darum, weil sie geschehen ist, sondern darum, weil sie so geschehen ist, daß er sie schwerlich zu seinem gegenwärtigen Zwecke besser erdichten könnte. Findet er diese Schicklichkeit von ohngefehr an einem wahren Falle, so ist ihm der wahre Fall willkommen; aber die Geschichtbücher erst lange darum nachzuschlagen, lohnt der Mühe nicht. Und wie viele wissen denn, was geschehen ist? Wenn wir die Möglichkeit, daß etwas geschehen kann, nur daher abnehmen wollen, weil es ge- schehen ist: was hindert uns, eine gänzlich er- dichtete Fabel für eine wirklich geschehene Hi- storie zu halten, von der wir nie etwas gehört haben? Was ist das erste, was uns eine Historie glaubwürdig macht? Ist es nicht ihre innere Wahrscheinlichkeit? Und ist es nicht einerley, ob diese Wahrscheinlichkeit von gar keinen Zeug- nissen und Ueberlieferungen bestätiget wird, oder von solchen, die zu unserer Wissenschaft noch nie gelangt sind? Es wird ohne Grund angenom-
men,
gebildet, welche die Natur der Sache erfo- dert.
Nun hat es Ariſtoteles laͤngſt entſchieden, wie weit ſich der tragiſche Dichter um die hiſto- riſche Wahrheit zu bekuͤmmern habe; nicht wei- ter, als ſie einer wohleingerichteten Fabel aͤhn- lich iſt, mit der er ſeine Abſichten verbinden kann. Er braucht eine Geſchichte nicht darum, weil ſie geſchehen iſt, ſondern darum, weil ſie ſo geſchehen iſt, daß er ſie ſchwerlich zu ſeinem gegenwaͤrtigen Zwecke beſſer erdichten koͤnnte. Findet er dieſe Schicklichkeit von ohngefehr an einem wahren Falle, ſo iſt ihm der wahre Fall willkommen; aber die Geſchichtbuͤcher erſt lange darum nachzuſchlagen, lohnt der Muͤhe nicht. Und wie viele wiſſen denn, was geſchehen iſt? Wenn wir die Moͤglichkeit, daß etwas geſchehen kann, nur daher abnehmen wollen, weil es ge- ſchehen iſt: was hindert uns, eine gaͤnzlich er- dichtete Fabel fuͤr eine wirklich geſchehene Hi- ſtorie zu halten, von der wir nie etwas gehoͤrt haben? Was iſt das erſte, was uns eine Hiſtorie glaubwuͤrdig macht? Iſt es nicht ihre innere Wahrſcheinlichkeit? Und iſt es nicht einerley, ob dieſe Wahrſcheinlichkeit von gar keinen Zeug- niſſen und Ueberlieferungen beſtaͤtiget wird, oder von ſolchen, die zu unſerer Wiſſenſchaft noch nie gelangt ſind? Es wird ohne Grund angenom-
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gebildet, welche die Natur der Sache erfo-
dert.
Nun hat es Ariſtoteles laͤngſt entſchieden,
wie weit ſich der tragiſche Dichter um die hiſto-
riſche Wahrheit zu bekuͤmmern habe; nicht wei-
ter, als ſie einer wohleingerichteten Fabel aͤhn-
lich iſt, mit der er ſeine Abſichten verbinden
kann. Er braucht eine Geſchichte nicht darum,
weil ſie geſchehen iſt, ſondern darum, weil ſie
ſo geſchehen iſt, daß er ſie ſchwerlich zu ſeinem
gegenwaͤrtigen Zwecke beſſer erdichten koͤnnte.
Findet er dieſe Schicklichkeit von ohngefehr an
einem wahren Falle, ſo iſt ihm der wahre Fall
willkommen; aber die Geſchichtbuͤcher erſt lange
darum nachzuſchlagen, lohnt der Muͤhe nicht.
Und wie viele wiſſen denn, was geſchehen iſt?
Wenn wir die Moͤglichkeit, daß etwas geſchehen
kann, nur daher abnehmen wollen, weil es ge-
ſchehen iſt: was hindert uns, eine gaͤnzlich er-
dichtete Fabel fuͤr eine wirklich geſchehene Hi-
ſtorie zu halten, von der wir nie etwas gehoͤrt
haben? Was iſt das erſte, was uns eine Hiſtorie
glaubwuͤrdig macht? Iſt es nicht ihre innere
Wahrſcheinlichkeit? Und iſt es nicht einerley,
ob dieſe Wahrſcheinlichkeit von gar keinen Zeug-
niſſen und Ueberlieferungen beſtaͤtiget wird, oder
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/160>, abgerufen am 24.11.2024.
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