fall, den Thomas nur haben konnte, den er aber als ein Franzose wohl haben mußte. Der Stil ist in der Grundsprache schwach; in der Ueber- setzung ist er oft kriechend geworden. Aber überhaupt ist das Stück nicht ohne Interesse, und hat hier und da glückliche Verse; die aber im Französischen glücklicher sind, als im Deut- schen. "Die Schauspieler, setzt der Herr von Voltaire hinzu, besonders die in der Provinz, spielen die Rolle des Essex gar zu gern, weil sie in einem gestickten Bande unter dem Knie, und mit einem großen blauen Bande über die Schul- ter darinn erscheinen können. Der Graf ist ein Held von der ersten Klasse, den der Neid ver- folgt: das macht Eindruck. Uebrigens ist die Zahl der guten Tragödien bey allen Nationen in der Welt so klein, daß die, welche nicht ganz schlecht sind, noch immer Zuschauer an sich zie- hen, wenn sie von guten Akteurs nur aufge- stutzet werden."
Er bestätiget dieses allgemeine Urtheil durch verschiedene einzelne Anmerkungen, die eben so richtig, als scharfsinnig sind, und deren man sich vielleicht, bey einer wiederholten Vorstellung, mit Vergnügen erinnern dürfte. Ich theile die vorzüglichsten also hier mit; in der festen Ueber- zeugung, daß die Kritik dem Genusse nicht scha- det, und daß diejenigen, welche ein Stück am schärfesten zu beurtheilen gelernt haben, immer
die-
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fall, den Thomas nur haben konnte, den er aber als ein Franzoſe wohl haben mußte. Der Stil iſt in der Grundſprache ſchwach; in der Ueber- ſetzung iſt er oft kriechend geworden. Aber uͤberhaupt iſt das Stuͤck nicht ohne Intereſſe, und hat hier und da gluͤckliche Verſe; die aber im Franzoͤſiſchen gluͤcklicher ſind, als im Deut- ſchen. 〟Die Schauſpieler, ſetzt der Herr von Voltaire hinzu, beſonders die in der Provinz, ſpielen die Rolle des Eſſex gar zu gern, weil ſie in einem geſtickten Bande unter dem Knie, und mit einem großen blauen Bande uͤber die Schul- ter darinn erſcheinen koͤnnen. Der Graf iſt ein Held von der erſten Klaſſe, den der Neid ver- folgt: das macht Eindruck. Uebrigens iſt die Zahl der guten Tragoͤdien bey allen Nationen in der Welt ſo klein, daß die, welche nicht ganz ſchlecht ſind, noch immer Zuſchauer an ſich zie- hen, wenn ſie von guten Akteurs nur aufge- ſtutzet werden.〟
Er beſtaͤtiget dieſes allgemeine Urtheil durch verſchiedene einzelne Anmerkungen, die eben ſo richtig, als ſcharfſinnig ſind, und deren man ſich vielleicht, bey einer wiederholten Vorſtellung, mit Vergnuͤgen erinnern duͤrfte. Ich theile die vorzuͤglichſten alſo hier mit; in der feſten Ueber- zeugung, daß die Kritik dem Genuſſe nicht ſcha- det, und daß diejenigen, welche ein Stuͤck am ſchaͤrfeſten zu beurtheilen gelernt haben, immer
die-
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[189/0203]
fall, den Thomas nur haben konnte, den er aber
als ein Franzoſe wohl haben mußte. Der Stil
iſt in der Grundſprache ſchwach; in der Ueber-
ſetzung iſt er oft kriechend geworden. Aber
uͤberhaupt iſt das Stuͤck nicht ohne Intereſſe,
und hat hier und da gluͤckliche Verſe; die aber
im Franzoͤſiſchen gluͤcklicher ſind, als im Deut-
ſchen. 〟Die Schauſpieler, ſetzt der Herr von
Voltaire hinzu, beſonders die in der Provinz,
ſpielen die Rolle des Eſſex gar zu gern, weil ſie
in einem geſtickten Bande unter dem Knie, und
mit einem großen blauen Bande uͤber die Schul-
ter darinn erſcheinen koͤnnen. Der Graf iſt ein
Held von der erſten Klaſſe, den der Neid ver-
folgt: das macht Eindruck. Uebrigens iſt die
Zahl der guten Tragoͤdien bey allen Nationen in
der Welt ſo klein, daß die, welche nicht ganz
ſchlecht ſind, noch immer Zuſchauer an ſich zie-
hen, wenn ſie von guten Akteurs nur aufge-
ſtutzet werden.〟
Er beſtaͤtiget dieſes allgemeine Urtheil durch
verſchiedene einzelne Anmerkungen, die eben ſo
richtig, als ſcharfſinnig ſind, und deren man ſich
vielleicht, bey einer wiederholten Vorſtellung,
mit Vergnuͤgen erinnern duͤrfte. Ich theile die
vorzuͤglichſten alſo hier mit; in der feſten Ueber-
zeugung, daß die Kritik dem Genuſſe nicht ſcha-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/203>, abgerufen am 24.11.2024.
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