ohne Leiden, und das durch die Erkennung verhin- derte Leiden nicht ohne Glückswechsel denken kön- nen. Gleichwohl kann beides gar wohl ohne das andere seyn; nicht zu erwähnen, daß auch nicht bei- des eben die nehmliche Person treffen muß, und wenn es die nehmliche Person trift, daß eben nicht beides sich zu der nehmlichen Zeit eräugnen darf, sondern eines auf das andere folgen, eines durch das andere verursachet werden kann. Ohne dieses zu überlegen, hat man nur an solche Fälle und Fabeln gedacht, in welchen beide Theile entweder zusammen fliessen, oder der eine den andern nothwendig aus- schließt. Daß es dergleichen giebt, ist unstreitig. Aber ist der Kunstrichter deswegen zu tadeln, der seine Regeln in der möglichsten Allgemeinheit ab- faßt, ohne sich um die Fälle zu bekümmern, in wel- chen seine allgemeinen Regeln in Collision kommen, und eine Vollkommenheit der andern aufgeopfert werden muß? Setzet ihn eine solche Collision mit sich selbst in Widerspruch? Er sagt: dieser Theil der Fabel, wenn er seine Vollkommenheit haben soll, muß von dieser Beschaffenheit seyn; jener von einer andern, und ein dritter wiederum von einer andern. Aber wo hat er gesagt, daß jede Fabel diese Theile alle nothwendig haben müsse? Genug für ihn, daß es Fabeln giebt, die sie alle haben können. Wenn eure Fabel aus der Zahl dieser glücklichen nicht ist; wenn sie euch nur den besten Glückswechsel, oder nur die beste Behandlung des Leidens erlaubt: so untersuchet, bey welchem von beiden ihr am besten überhaupt fahren würdet, und wählet. Das ist es alles!
Ham-
ohne Leiden, und das durch die Erkennung verhin- derte Leiden nicht ohne Gluͤckswechſel denken koͤn- nen. Gleichwohl kann beides gar wohl ohne das andere ſeyn; nicht zu erwaͤhnen, daß auch nicht bei- des eben die nehmliche Perſon treffen muß, und wenn es die nehmliche Perſon trift, daß eben nicht beides ſich zu der nehmlichen Zeit eraͤugnen darf, ſondern eines auf das andere folgen, eines durch das andere verurſachet werden kann. Ohne dieſes zu uͤberlegen, hat man nur an ſolche Faͤlle und Fabeln gedacht, in welchen beide Theile entweder zuſammen flieſſen, oder der eine den andern nothwendig aus- ſchließt. Daß es dergleichen giebt, iſt unſtreitig. Aber iſt der Kunſtrichter deswegen zu tadeln, der ſeine Regeln in der moͤglichſten Allgemeinheit ab- faßt, ohne ſich um die Faͤlle zu bekuͤmmern, in wel- chen ſeine allgemeinen Regeln in Colliſion kommen, und eine Vollkommenheit der andern aufgeopfert werden muß? Setzet ihn eine ſolche Colliſion mit ſich ſelbſt in Widerſpruch? Er ſagt: dieſer Theil der Fabel, wenn er ſeine Vollkommenheit haben ſoll, muß von dieſer Beſchaffenheit ſeyn; jener von einer andern, und ein dritter wiederum von einer andern. Aber wo hat er geſagt, daß jede Fabel dieſe Theile alle nothwendig haben muͤſſe? Genug fuͤr ihn, daß es Fabeln giebt, die ſie alle haben koͤnnen. Wenn eure Fabel aus der Zahl dieſer gluͤcklichen nicht iſt; wenn ſie euch nur den beſten Gluͤckswechſel, oder nur die beſte Behandlung des Leidens erlaubt: ſo unterſuchet, bey welchem von beiden ihr am beſten uͤberhaupt fahren wuͤrdet, und waͤhlet. Das iſt es alles!
Ham-
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ohne Leiden, und das durch die Erkennung verhin-
derte Leiden nicht ohne Gluͤckswechſel denken koͤn-
nen. Gleichwohl kann beides gar wohl ohne das
andere ſeyn; nicht zu erwaͤhnen, daß auch nicht bei-
des eben die nehmliche Perſon treffen muß, und
wenn es die nehmliche Perſon trift, daß eben nicht
beides ſich zu der nehmlichen Zeit eraͤugnen darf,
ſondern eines auf das andere folgen, eines durch das
andere verurſachet werden kann. Ohne dieſes zu
uͤberlegen, hat man nur an ſolche Faͤlle und Fabeln
gedacht, in welchen beide Theile entweder zuſammen
flieſſen, oder der eine den andern nothwendig aus-
ſchließt. Daß es dergleichen giebt, iſt unſtreitig.
Aber iſt der Kunſtrichter deswegen zu tadeln, der
ſeine Regeln in der moͤglichſten Allgemeinheit ab-
faßt, ohne ſich um die Faͤlle zu bekuͤmmern, in wel-
chen ſeine allgemeinen Regeln in Colliſion kommen,
und eine Vollkommenheit der andern aufgeopfert
werden muß? Setzet ihn eine ſolche Colliſion mit
ſich ſelbſt in Widerſpruch? Er ſagt: dieſer Theil der
Fabel, wenn er ſeine Vollkommenheit haben ſoll,
muß von dieſer Beſchaffenheit ſeyn; jener von einer
andern, und ein dritter wiederum von einer andern.
Aber wo hat er geſagt, daß jede Fabel dieſe Theile
alle nothwendig haben muͤſſe? Genug fuͤr ihn, daß
es Fabeln giebt, die ſie alle haben koͤnnen. Wenn
eure Fabel aus der Zahl dieſer gluͤcklichen nicht iſt;
wenn ſie euch nur den beſten Gluͤckswechſel, oder
nur die beſte Behandlung des Leidens erlaubt: ſo
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uͤberhaupt fahren wuͤrdet, und waͤhlet. Das iſt es
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/318>, abgerufen am 22.11.2024.
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