eine so vollkommene Fabel von einem so großen Dichter, als Voltaire, bearbeitet, nothwendig ein Meisterstück werden müssen.
Doch Tournemine und Tournemine -- Ich fürchte, meine Leser werden fragen: "Wer ist "denn dieser Tournemine? Wir kennen keinen "Tournemine." Denn viele dürften ihn wirk- lich nicht kennen; und manche dürften so fragen, weil sie ihn gar zu gut kennen; wie Montes- quieu. (*)
Sie belieben also, anstatt des Pater Tourne- mine, den Herrn von Voltaire selbst zu substi- tuiren. Denn auch er sucht uns, von dem ver- lohrnen Stücke des Euripides, die nehmlichen irrigen Begriffe zu machen. Auch er sagt, daß Aristoteles in seiner unsterblichen Dichtkunst nicht anstehe, zu behaupten, daß die Erkennung der Merope und ihres Sohnes der interessanteste Augenblick der ganzen griechischen Bühne sey. Auch er sagt, daß Aristoteles diesem Coup de Theatre den Vorzug vor allen andern ertheile. Und vom Plutarch versichert er uns gar, daß er dieses Stück des Euripides für das rührendste von allen Stücken desselben gehalten habe. (**)
que.
Die-
(*)Lettres familieres.
(**)Aristote, dans sa Poetique immortelle, ne balance pas a dire que la reconnoissance de Merope & de son fils etaient le moment le plus interessant de toute la scene Grec-
eine ſo vollkommene Fabel von einem ſo großen Dichter, als Voltaire, bearbeitet, nothwendig ein Meiſterſtuͤck werden muͤſſen.
Doch Tournemine und Tournemine — Ich fuͤrchte, meine Leſer werden fragen: 〟Wer iſt 〟denn dieſer Tournemine? Wir kennen keinen 〟Tournemine.〟 Denn viele duͤrften ihn wirk- lich nicht kennen; und manche duͤrften ſo fragen, weil ſie ihn gar zu gut kennen; wie Montes- quieu. (*)
Sie belieben alſo, anſtatt des Pater Tourne- mine, den Herrn von Voltaire ſelbſt zu ſubſti- tuiren. Denn auch er ſucht uns, von dem ver- lohrnen Stuͤcke des Euripides, die nehmlichen irrigen Begriffe zu machen. Auch er ſagt, daß Ariſtoteles in ſeiner unſterblichen Dichtkunſt nicht anſtehe, zu behaupten, daß die Erkennung der Merope und ihres Sohnes der intereſſanteſte Augenblick der ganzen griechiſchen Buͤhne ſey. Auch er ſagt, daß Ariſtoteles dieſem Coup de Théatre den Vorzug vor allen andern ertheile. Und vom Plutarch verſichert er uns gar, daß er dieſes Stuͤck des Euripides fuͤr das ruͤhrendſte von allen Stuͤcken deſſelben gehalten habe. (**)
que.
Die-
(*)Lettres familières.
(**)Ariſtote, dans ſa Poëtique immortelle, ne balance pas à dire que la reconnoiſſance de Merope & de ſon fils étaient le moment le plus intereſſant de toute la ſcène Grec-
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eine ſo vollkommene Fabel von einem ſo großen
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Doch Tournemine und Tournemine — Ich
fuͤrchte, meine Leſer werden fragen: 〟Wer iſt
〟denn dieſer Tournemine? Wir kennen keinen
〟Tournemine.〟 Denn viele duͤrften ihn wirk-
lich nicht kennen; und manche duͤrften ſo fragen,
weil ſie ihn gar zu gut kennen; wie Montes-
quieu. (*)
Sie belieben alſo, anſtatt des Pater Tourne-
mine, den Herrn von Voltaire ſelbſt zu ſubſti-
tuiren. Denn auch er ſucht uns, von dem ver-
lohrnen Stuͤcke des Euripides, die nehmlichen
irrigen Begriffe zu machen. Auch er ſagt, daß
Ariſtoteles in ſeiner unſterblichen Dichtkunſt
nicht anſtehe, zu behaupten, daß die Erkennung
der Merope und ihres Sohnes der intereſſanteſte
Augenblick der ganzen griechiſchen Buͤhne ſey.
Auch er ſagt, daß Ariſtoteles dieſem Coup de
Théatre den Vorzug vor allen andern ertheile.
Und vom Plutarch verſichert er uns gar, daß er
dieſes Stuͤck des Euripides fuͤr das ruͤhrendſte
von allen Stuͤcken deſſelben gehalten habe. (**)
Die-
(*) Lettres familières.
(**) Ariſtote, dans ſa Poëtique immortelle, ne
balance pas à dire que la reconnoiſſance
de Merope & de ſon fils étaient le moment
le plus intereſſant de toute la ſcène Grec-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/320>, abgerufen am 22.11.2024.
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