Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

Nun ist es möglich, daß gewisse Dinge in dem
Baue des Körpers diese Merkmale entweder gar
nicht verstatten, oder doch schwächen und zwey-
deutig machen. Der Akteur kann eine gewisse
Bildung des Gesichts, gewisse Minen, einen
gewissen Ton haben, mit denen wir ganz andere
Fähigkeiten, ganz andere Leidenschaften, ganz
andere Gesinnungen zu verbinden gewohnt sind,
als er gegenwärtig äußern und ausdrücken soll.
Ist dieses, so mag er noch so viel empfinden,
wir glauben ihm nicht: denn er ist mit sich selbst
im Widerspruche. Gegentheils kann ein anderer
so glücklich gebauet seyn; er kann so entscheidende
Züge besitzen; alle seine Muskeln können ihm so
leicht, so geschwind zu Gebothe stehen; er kann
so feine, so vielfältige Abänderungen der Stimme
in seiner Gewalt haben; kurz, er kann mit allen
zur Pantomime erforderlichen Gaben in einem so
hohen Grade beglückt seyn, daß er uns in den-
jenigen Rollen, die er nicht ursprünglich, son-
dern nach irgend einem guten Vorbilde spielet,
von der innigsten Empfindung beseelet scheinen
wird, da doch alles, was er sagt und thut,
nichts als mechanische Nachäffung ist.

Ohne Zweifel ist dieser, ungeachtet seiner
Gleichgültigkeit und Kälte, dennoch auf dem
Theater weit brauchbarer, als jener. Wenn er
lange genug nichts als nachgeäffet hat, haben
sich endlich eine Menge kleiner Regeln bey ihm

ge-
C 2

Nun iſt es moͤglich, daß gewiſſe Dinge in dem
Baue des Koͤrpers dieſe Merkmale entweder gar
nicht verſtatten, oder doch ſchwaͤchen und zwey-
deutig machen. Der Akteur kann eine gewiſſe
Bildung des Geſichts, gewiſſe Minen, einen
gewiſſen Ton haben, mit denen wir ganz andere
Faͤhigkeiten, ganz andere Leidenſchaften, ganz
andere Geſinnungen zu verbinden gewohnt ſind,
als er gegenwaͤrtig aͤußern und ausdruͤcken ſoll.
Iſt dieſes, ſo mag er noch ſo viel empfinden,
wir glauben ihm nicht: denn er iſt mit ſich ſelbſt
im Widerſpruche. Gegentheils kann ein anderer
ſo gluͤcklich gebauet ſeyn; er kann ſo entſcheidende
Zuͤge beſitzen; alle ſeine Muſkeln koͤnnen ihm ſo
leicht, ſo geſchwind zu Gebothe ſtehen; er kann
ſo feine, ſo vielfaͤltige Abaͤnderungen der Stimme
in ſeiner Gewalt haben; kurz, er kann mit allen
zur Pantomime erforderlichen Gaben in einem ſo
hohen Grade begluͤckt ſeyn, daß er uns in den-
jenigen Rollen, die er nicht urſpruͤnglich, ſon-
dern nach irgend einem guten Vorbilde ſpielet,
von der innigſten Empfindung beſeelet ſcheinen
wird, da doch alles, was er ſagt und thut,
nichts als mechaniſche Nachaͤffung iſt.

Ohne Zweifel iſt dieſer, ungeachtet ſeiner
Gleichguͤltigkeit und Kaͤlte, dennoch auf dem
Theater weit brauchbarer, als jener. Wenn er
lange genug nichts als nachgeaͤffet hat, haben
ſich endlich eine Menge kleiner Regeln bey ihm

ge-
C 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0033" n="19"/>
Nun i&#x017F;t es mo&#x0364;glich, daß gewi&#x017F;&#x017F;e Dinge in dem<lb/>
Baue des Ko&#x0364;rpers die&#x017F;e Merkmale entweder gar<lb/>
nicht ver&#x017F;tatten, oder doch &#x017F;chwa&#x0364;chen und zwey-<lb/>
deutig machen. Der Akteur kann eine gewi&#x017F;&#x017F;e<lb/>
Bildung des Ge&#x017F;ichts, gewi&#x017F;&#x017F;e Minen, einen<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;en Ton haben, mit denen wir ganz andere<lb/>
Fa&#x0364;higkeiten, ganz andere Leiden&#x017F;chaften, ganz<lb/>
andere Ge&#x017F;innungen zu verbinden gewohnt &#x017F;ind,<lb/>
als er gegenwa&#x0364;rtig a&#x0364;ußern und ausdru&#x0364;cken &#x017F;oll.<lb/>
I&#x017F;t die&#x017F;es, &#x017F;o mag er noch &#x017F;o viel empfinden,<lb/>
wir glauben ihm nicht: denn er i&#x017F;t mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
im Wider&#x017F;pruche. Gegentheils kann ein anderer<lb/>
&#x017F;o glu&#x0364;cklich gebauet &#x017F;eyn; er kann &#x017F;o ent&#x017F;cheidende<lb/>
Zu&#x0364;ge be&#x017F;itzen; alle &#x017F;eine Mu&#x017F;keln ko&#x0364;nnen ihm &#x017F;o<lb/>
leicht, &#x017F;o ge&#x017F;chwind zu Gebothe &#x017F;tehen; er kann<lb/>
&#x017F;o feine, &#x017F;o vielfa&#x0364;ltige Aba&#x0364;nderungen der Stimme<lb/>
in &#x017F;einer Gewalt haben; kurz, er kann mit allen<lb/>
zur Pantomime erforderlichen Gaben in einem &#x017F;o<lb/>
hohen Grade beglu&#x0364;ckt &#x017F;eyn, daß er uns in den-<lb/>
jenigen Rollen, die er nicht ur&#x017F;pru&#x0364;nglich, &#x017F;on-<lb/>
dern nach irgend einem guten Vorbilde &#x017F;pielet,<lb/>
von der innig&#x017F;ten Empfindung be&#x017F;eelet &#x017F;cheinen<lb/>
wird, da doch alles, was er &#x017F;agt und thut,<lb/>
nichts als mechani&#x017F;che Nacha&#x0364;ffung i&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Ohne Zweifel i&#x017F;t die&#x017F;er, ungeachtet &#x017F;einer<lb/>
Gleichgu&#x0364;ltigkeit und Ka&#x0364;lte, dennoch auf dem<lb/>
Theater weit brauchbarer, als jener. Wenn er<lb/>
lange genug nichts als nachgea&#x0364;ffet hat, haben<lb/>
&#x017F;ich endlich eine Menge kleiner Regeln bey ihm<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">C 2</fw><fw place="bottom" type="catch">ge-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[19/0033] Nun iſt es moͤglich, daß gewiſſe Dinge in dem Baue des Koͤrpers dieſe Merkmale entweder gar nicht verſtatten, oder doch ſchwaͤchen und zwey- deutig machen. Der Akteur kann eine gewiſſe Bildung des Geſichts, gewiſſe Minen, einen gewiſſen Ton haben, mit denen wir ganz andere Faͤhigkeiten, ganz andere Leidenſchaften, ganz andere Geſinnungen zu verbinden gewohnt ſind, als er gegenwaͤrtig aͤußern und ausdruͤcken ſoll. Iſt dieſes, ſo mag er noch ſo viel empfinden, wir glauben ihm nicht: denn er iſt mit ſich ſelbſt im Widerſpruche. Gegentheils kann ein anderer ſo gluͤcklich gebauet ſeyn; er kann ſo entſcheidende Zuͤge beſitzen; alle ſeine Muſkeln koͤnnen ihm ſo leicht, ſo geſchwind zu Gebothe ſtehen; er kann ſo feine, ſo vielfaͤltige Abaͤnderungen der Stimme in ſeiner Gewalt haben; kurz, er kann mit allen zur Pantomime erforderlichen Gaben in einem ſo hohen Grade begluͤckt ſeyn, daß er uns in den- jenigen Rollen, die er nicht urſpruͤnglich, ſon- dern nach irgend einem guten Vorbilde ſpielet, von der innigſten Empfindung beſeelet ſcheinen wird, da doch alles, was er ſagt und thut, nichts als mechaniſche Nachaͤffung iſt. Ohne Zweifel iſt dieſer, ungeachtet ſeiner Gleichguͤltigkeit und Kaͤlte, dennoch auf dem Theater weit brauchbarer, als jener. Wenn er lange genug nichts als nachgeaͤffet hat, haben ſich endlich eine Menge kleiner Regeln bey ihm ge- C 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/33
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/33>, abgerufen am 21.11.2024.