nach Messene kömmt, und per combinazione d'ac- cidenti (wie Maffei es ausdrückt) für den Mörder des Aegisth gehalten wird, giebt nicht allein der ganzen Geschichte ein sehr verwirrtes, zweydeutiges und romanenhaftes Ansehen, sondern schwächt auch das Juteresse ungemein. Bey dem Euripides wußte es der Zuschauer von dem Aegisth selbst, daß er Aegisth sey, und je gewisser er es wußte, daß Me- rope ihren eignen Sohn umzubringen kommt, desto größer mußte nothwendig das Schrecken seyn, das ihn darüber befiel, desto quälender das Mitleid, welches er voraus sahe, Falls Merope an der Voll- ziehung nicht zu rechter Zeit verhindert würde. Bey dem Maffei und Voltaire hingegen, vermuthen wir es nur, daß der vermeinte Mörder des Sohnes der Sohn wohl selbst seyn könne, und unser größtes Schrecken ist auf den einzigen Augenblick versparet, in welchem es Schrecken zu seyn aufhöret. Das schlimmste dabey ist noch dieses, daß die Gründe, die uns in dem jungen Fremdlinge den Sohn der Merope vermuthen lassen, eben die Gründe sind, aus welchen es Merope selbst vermuthen sollte; und daß wir ihn, besonders bey Voltairen, nicht in dem allergeringsten Stücke näher und zuverläßiger ken- nen, als sie ihn selbst kennen kann. Wir trauen also diesen Gründen entweder eben so viel, als ih- nen Merope trauet, oder wir trauen ihnen mehr. Trauen wir ihnen eben so viel, so halten wir den Jüngling mit ihr für einen Betrieger, und das Schicksal, das sie ihm zugedacht, kann uns nicht sehr rühren. Trauen wir ihnen mehr, so tadeln wir Meropen, daß sie nicht besser darauf merket, und sich von weit seichtern Gründen hinreissen läßt. Beides aber taugt nicht.
Ham-
nach Meſſene koͤmmt, und per combinazione d’ac- cidenti (wie Maffei es ausdruͤckt) fuͤr den Moͤrder des Aegisth gehalten wird, giebt nicht allein der ganzen Geſchichte ein ſehr verwirrtes, zweydeutiges und romanenhaftes Anſehen, ſondern ſchwaͤcht auch das Jutereſſe ungemein. Bey dem Euripides wußte es der Zuſchauer von dem Aegisth ſelbſt, daß er Aegisth ſey, und je gewiſſer er es wußte, daß Me- rope ihren eignen Sohn umzubringen kommt, deſto groͤßer mußte nothwendig das Schrecken ſeyn, das ihn daruͤber befiel, deſto quaͤlender das Mitleid, welches er voraus ſahe, Falls Merope an der Voll- ziehung nicht zu rechter Zeit verhindert wuͤrde. Bey dem Maffei und Voltaire hingegen, vermuthen wir es nur, daß der vermeinte Moͤrder des Sohnes der Sohn wohl ſelbſt ſeyn koͤnne, und unſer groͤßtes Schrecken iſt auf den einzigen Augenblick verſparet, in welchem es Schrecken zu ſeyn aufhoͤret. Das ſchlimmſte dabey iſt noch dieſes, daß die Gruͤnde, die uns in dem jungen Fremdlinge den Sohn der Merope vermuthen laſſen, eben die Gruͤnde ſind, aus welchen es Merope ſelbſt vermuthen ſollte; und daß wir ihn, beſonders bey Voltairen, nicht in dem allergeringſten Stuͤcke naͤher und zuverlaͤßiger ken- nen, als ſie ihn ſelbſt kennen kann. Wir trauen alſo dieſen Gruͤnden entweder eben ſo viel, als ih- nen Merope trauet, oder wir trauen ihnen mehr. Trauen wir ihnen eben ſo viel, ſo halten wir den Juͤngling mit ihr fuͤr einen Betrieger, und das Schickſal, das ſie ihm zugedacht, kann uns nicht ſehr ruͤhren. Trauen wir ihnen mehr, ſo tadeln wir Meropen, daß ſie nicht beſſer darauf merket, und ſich von weit ſeichtern Gruͤnden hinreiſſen laͤßt. Beides aber taugt nicht.
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nach Meſſene koͤmmt, und per combinazione d’ac-
cidenti (wie Maffei es ausdruͤckt) fuͤr den Moͤrder
des Aegisth gehalten wird, giebt nicht allein der
ganzen Geſchichte ein ſehr verwirrtes, zweydeutiges
und romanenhaftes Anſehen, ſondern ſchwaͤcht auch
das Jutereſſe ungemein. Bey dem Euripides wußte
es der Zuſchauer von dem Aegisth ſelbſt, daß er
Aegisth ſey, und je gewiſſer er es wußte, daß Me-
rope ihren eignen Sohn umzubringen kommt, deſto
groͤßer mußte nothwendig das Schrecken ſeyn, das
ihn daruͤber befiel, deſto quaͤlender das Mitleid,
welches er voraus ſahe, Falls Merope an der Voll-
ziehung nicht zu rechter Zeit verhindert wuͤrde. Bey
dem Maffei und Voltaire hingegen, vermuthen wir
es nur, daß der vermeinte Moͤrder des Sohnes der
Sohn wohl ſelbſt ſeyn koͤnne, und unſer groͤßtes
Schrecken iſt auf den einzigen Augenblick verſparet,
in welchem es Schrecken zu ſeyn aufhoͤret. Das
ſchlimmſte dabey iſt noch dieſes, daß die Gruͤnde,
die uns in dem jungen Fremdlinge den Sohn der
Merope vermuthen laſſen, eben die Gruͤnde ſind,
aus welchen es Merope ſelbſt vermuthen ſollte; und
daß wir ihn, beſonders bey Voltairen, nicht in dem
allergeringſten Stuͤcke naͤher und zuverlaͤßiger ken-
nen, als ſie ihn ſelbſt kennen kann. Wir trauen
alſo dieſen Gruͤnden entweder eben ſo viel, als ih-
nen Merope trauet, oder wir trauen ihnen mehr.
Trauen wir ihnen eben ſo viel, ſo halten wir den
Juͤngling mit ihr fuͤr einen Betrieger, und das
Schickſal, das ſie ihm zugedacht, kann uns nicht
ſehr ruͤhren. Trauen wir ihnen mehr, ſo tadeln
wir Meropen, daß ſie nicht beſſer darauf merket,
und ſich von weit ſeichtern Gruͤnden hinreiſſen laͤßt.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/390>, abgerufen am 22.11.2024.
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