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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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das Interesse mehr die Wirkung des Plans, als
der Reden; in den einfachen Stücken hingegen
ist es mehr die Wirkung der Reden, als des
Plans. Allein worauf muß sich das Interesse
beziehen? Auf die Personen? Oder auf die Zu-
schauer? Die Zuschauer sind nichts als Zeugen,
von welchen man nichts weiß. Folglich sind es
die Personen, die man vor Augen haben muß.
Ohnstreitig! Diese lasse man den Knoten schür-
zen, ohne daß sie es wissen; für diese sey alles
undurchdringlich; diese bringe man, ohne daß
sie es merken, der Auflösung immer näher und
näher. Sind diese nur in Bewegung, so wer-
den wir Zuschauer den nehmlichen Bewegungen
schon auch nachgeben, sie schon auch empfinden
müssen. -- Weit gefehlt, daß ich mit den mei-
sten, die von der dramatischen Dichtkunst ge-
schrieben haben, glauben sollte, man müsse die
Entwicklung vor dem Zuschauer verbergen. Ich
dächte vielmehr, es sollte meine Kräfte nicht
übersteigen, wenn ich mir ein Werk zu machen
vorsetzte, wo die Entwicklung gleich in der ersten
Scene verrathen würde, und aus diesem Um-
stande selbst das allerstärkeste Interesse entsprän-
ge. -- Für den Zuschauer muß alles klar seyn.
Er ist der Vertraute einer jeden Person; er weiß
alles was vorgeht, alles was vorgegangen ist;
und es giebt hundert Augenblicke, wo man nichts
bessers thun kann, als daß man ihm gerade vor-

aus-

das Intereſſe mehr die Wirkung des Plans, als
der Reden; in den einfachen Stuͤcken hingegen
iſt es mehr die Wirkung der Reden, als des
Plans. Allein worauf muß ſich das Intereſſe
beziehen? Auf die Perſonen? Oder auf die Zu-
ſchauer? Die Zuſchauer ſind nichts als Zeugen,
von welchen man nichts weiß. Folglich ſind es
die Perſonen, die man vor Augen haben muß.
Ohnſtreitig! Dieſe laſſe man den Knoten ſchuͤr-
zen, ohne daß ſie es wiſſen; fuͤr dieſe ſey alles
undurchdringlich; dieſe bringe man, ohne daß
ſie es merken, der Aufloͤſung immer naͤher und
naͤher. Sind dieſe nur in Bewegung, ſo wer-
den wir Zuſchauer den nehmlichen Bewegungen
ſchon auch nachgeben, ſie ſchon auch empfinden
muͤſſen. — Weit gefehlt, daß ich mit den mei-
ſten, die von der dramatiſchen Dichtkunſt ge-
ſchrieben haben, glauben ſollte, man muͤſſe die
Entwicklung vor dem Zuſchauer verbergen. Ich
daͤchte vielmehr, es ſollte meine Kraͤfte nicht
uͤberſteigen, wenn ich mir ein Werk zu machen
vorſetzte, wo die Entwicklung gleich in der erſten
Scene verrathen wuͤrde, und aus dieſem Um-
ſtande ſelbſt das allerſtaͤrkeſte Intereſſe entſpraͤn-
ge. — Fuͤr den Zuſchauer muß alles klar ſeyn.
Er iſt der Vertraute einer jeden Perſon; er weiß
alles was vorgeht, alles was vorgegangen iſt;
und es giebt hundert Augenblicke, wo man nichts
beſſers thun kann, als daß man ihm gerade vor-

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[378/0392] das Intereſſe mehr die Wirkung des Plans, als der Reden; in den einfachen Stuͤcken hingegen iſt es mehr die Wirkung der Reden, als des Plans. Allein worauf muß ſich das Intereſſe beziehen? Auf die Perſonen? Oder auf die Zu- ſchauer? Die Zuſchauer ſind nichts als Zeugen, von welchen man nichts weiß. Folglich ſind es die Perſonen, die man vor Augen haben muß. Ohnſtreitig! Dieſe laſſe man den Knoten ſchuͤr- zen, ohne daß ſie es wiſſen; fuͤr dieſe ſey alles undurchdringlich; dieſe bringe man, ohne daß ſie es merken, der Aufloͤſung immer naͤher und naͤher. Sind dieſe nur in Bewegung, ſo wer- den wir Zuſchauer den nehmlichen Bewegungen ſchon auch nachgeben, ſie ſchon auch empfinden muͤſſen. — Weit gefehlt, daß ich mit den mei- ſten, die von der dramatiſchen Dichtkunſt ge- ſchrieben haben, glauben ſollte, man muͤſſe die Entwicklung vor dem Zuſchauer verbergen. Ich daͤchte vielmehr, es ſollte meine Kraͤfte nicht uͤberſteigen, wenn ich mir ein Werk zu machen vorſetzte, wo die Entwicklung gleich in der erſten Scene verrathen wuͤrde, und aus dieſem Um- ſtande ſelbſt das allerſtaͤrkeſte Intereſſe entſpraͤn- ge. — Fuͤr den Zuſchauer muß alles klar ſeyn. Er iſt der Vertraute einer jeden Perſon; er weiß alles was vorgeht, alles was vorgegangen iſt; und es giebt hundert Augenblicke, wo man nichts beſſers thun kann, als daß man ihm gerade vor- aus-

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/392>, abgerufen am 22.11.2024.