Dieses auf den Aegisth angewendet, ist es klar, für welchen von beiden Planen sich Di- derot erklären würde: ob für den alten des Eu- ripides, wo die Zuschauer gleich vom Anfange den Aegisth eben so gut kennen, als er sich selbst; oder für den neuern des Maffei, den Voltaire so blindlings angenommen, wo Aegisth sich und den Zuschauern ein Räthsel ist, und dadurch das ganze Stück "zu einem Zusammenhange von kleinen Kunstgriffen" macht, die weiter nichts als eine kurze Ueberraschung hervorbringen.
Diderot hat auch nicht ganz Unrecht, seine Gedanken über die Entbehrlichkeit und Gering- fügigkeit aller ungewissen Erwartungen und plötzlichen Ueberraschungen, die sich auf den Zuschauer beziehen, für eben so neu als gegrün- det auszugeben. Sie sind neu, in Ansehung ihrer Abstraction, aber sehr alt in Ansehung der Muster, aus welchen sie abstrahiret worden. Sie sind neu, in Betrachtung, daß seine Vor- gänger nur immer auf das Gegentheil gedrun- gen; aber unter diese Vorgänger gehört weder Aristoteles noch Horaz, welchen durchaus nichts entfahren ist, was ihre Ausleger und Nachfol- ger in ihrer Prädilection für dieses Gegentheil hätte bestärken können, dessen gute Wirkung sie weder den meisten noch den besten Stücken der Alten abgesehen hatten.
Un-
B b b 3
Dieſes auf den Aegisth angewendet, iſt es klar, fuͤr welchen von beiden Planen ſich Di- derot erklaͤren wuͤrde: ob fuͤr den alten des Eu- ripides, wo die Zuſchauer gleich vom Anfange den Aegisth eben ſo gut kennen, als er ſich ſelbſt; oder fuͤr den neuern des Maffei, den Voltaire ſo blindlings angenommen, wo Aegisth ſich und den Zuſchauern ein Raͤthſel iſt, und dadurch das ganze Stuͤck 〟zu einem Zuſammenhange von kleinen Kunſtgriffen〟 macht, die weiter nichts als eine kurze Ueberraſchung hervorbringen.
Diderot hat auch nicht ganz Unrecht, ſeine Gedanken uͤber die Entbehrlichkeit und Gering- fuͤgigkeit aller ungewiſſen Erwartungen und ploͤtzlichen Ueberraſchungen, die ſich auf den Zuſchauer beziehen, fuͤr eben ſo neu als gegruͤn- det auszugeben. Sie ſind neu, in Anſehung ihrer Abſtraction, aber ſehr alt in Anſehung der Muſter, aus welchen ſie abſtrahiret worden. Sie ſind neu, in Betrachtung, daß ſeine Vor- gaͤnger nur immer auf das Gegentheil gedrun- gen; aber unter dieſe Vorgaͤnger gehoͤrt weder Ariſtoteles noch Horaz, welchen durchaus nichts entfahren iſt, was ihre Ausleger und Nachfol- ger in ihrer Praͤdilection fuͤr dieſes Gegentheil haͤtte beſtaͤrken koͤnnen, deſſen gute Wirkung ſie weder den meiſten noch den beſten Stuͤcken der Alten abgeſehen hatten.
Un-
B b b 3
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0395"n="381"/><p>Dieſes auf den Aegisth angewendet, iſt es<lb/>
klar, fuͤr welchen von beiden Planen ſich Di-<lb/>
derot erklaͤren wuͤrde: ob fuͤr den alten des Eu-<lb/>
ripides, wo die Zuſchauer gleich vom Anfange<lb/>
den Aegisth eben ſo gut kennen, als er ſich ſelbſt;<lb/>
oder fuͤr den neuern des Maffei, den Voltaire<lb/>ſo blindlings angenommen, wo Aegisth ſich und<lb/>
den Zuſchauern ein Raͤthſel iſt, und dadurch das<lb/>
ganze Stuͤck <cit><quote>〟zu einem Zuſammenhange von<lb/>
kleinen Kunſtgriffen〟</quote></cit> macht, die weiter nichts<lb/>
als eine kurze Ueberraſchung hervorbringen.</p><lb/><p>Diderot hat auch nicht ganz Unrecht, ſeine<lb/>
Gedanken uͤber die Entbehrlichkeit und Gering-<lb/>
fuͤgigkeit aller ungewiſſen Erwartungen und<lb/>
ploͤtzlichen Ueberraſchungen, die ſich auf den<lb/>
Zuſchauer beziehen, fuͤr eben ſo neu als gegruͤn-<lb/>
det auszugeben. Sie ſind neu, in Anſehung<lb/>
ihrer Abſtraction, aber ſehr alt in Anſehung der<lb/>
Muſter, aus welchen ſie abſtrahiret worden.<lb/>
Sie ſind neu, in Betrachtung, daß ſeine Vor-<lb/>
gaͤnger nur immer auf das Gegentheil gedrun-<lb/>
gen; aber unter dieſe Vorgaͤnger gehoͤrt weder<lb/>
Ariſtoteles noch Horaz, welchen durchaus nichts<lb/>
entfahren iſt, was ihre Ausleger und Nachfol-<lb/>
ger in ihrer Praͤdilection fuͤr dieſes Gegentheil<lb/>
haͤtte beſtaͤrken koͤnnen, deſſen gute Wirkung<lb/>ſie weder den meiſten noch den beſten Stuͤcken<lb/>
der Alten abgeſehen hatten.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">B b b 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">Un-</fw><lb/></div></body></text></TEI>
[381/0395]
Dieſes auf den Aegisth angewendet, iſt es
klar, fuͤr welchen von beiden Planen ſich Di-
derot erklaͤren wuͤrde: ob fuͤr den alten des Eu-
ripides, wo die Zuſchauer gleich vom Anfange
den Aegisth eben ſo gut kennen, als er ſich ſelbſt;
oder fuͤr den neuern des Maffei, den Voltaire
ſo blindlings angenommen, wo Aegisth ſich und
den Zuſchauern ein Raͤthſel iſt, und dadurch das
ganze Stuͤck 〟zu einem Zuſammenhange von
kleinen Kunſtgriffen〟 macht, die weiter nichts
als eine kurze Ueberraſchung hervorbringen.
Diderot hat auch nicht ganz Unrecht, ſeine
Gedanken uͤber die Entbehrlichkeit und Gering-
fuͤgigkeit aller ungewiſſen Erwartungen und
ploͤtzlichen Ueberraſchungen, die ſich auf den
Zuſchauer beziehen, fuͤr eben ſo neu als gegruͤn-
det auszugeben. Sie ſind neu, in Anſehung
ihrer Abſtraction, aber ſehr alt in Anſehung der
Muſter, aus welchen ſie abſtrahiret worden.
Sie ſind neu, in Betrachtung, daß ſeine Vor-
gaͤnger nur immer auf das Gegentheil gedrun-
gen; aber unter dieſe Vorgaͤnger gehoͤrt weder
Ariſtoteles noch Horaz, welchen durchaus nichts
entfahren iſt, was ihre Ausleger und Nachfol-
ger in ihrer Praͤdilection fuͤr dieſes Gegentheil
haͤtte beſtaͤrken koͤnnen, deſſen gute Wirkung
ſie weder den meiſten noch den beſten Stuͤcken
der Alten abgeſehen hatten.
Un-
B b b 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/395>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.