Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

Dieses auf den Aegisth angewendet, ist es
klar, für welchen von beiden Planen sich Di-
derot erklären würde: ob für den alten des Eu-
ripides, wo die Zuschauer gleich vom Anfange
den Aegisth eben so gut kennen, als er sich selbst;
oder für den neuern des Maffei, den Voltaire
so blindlings angenommen, wo Aegisth sich und
den Zuschauern ein Räthsel ist, und dadurch das
ganze Stück "zu einem Zusammenhange von
kleinen Kunstgriffen"
macht, die weiter nichts
als eine kurze Ueberraschung hervorbringen.

Diderot hat auch nicht ganz Unrecht, seine
Gedanken über die Entbehrlichkeit und Gering-
fügigkeit aller ungewissen Erwartungen und
plötzlichen Ueberraschungen, die sich auf den
Zuschauer beziehen, für eben so neu als gegrün-
det auszugeben. Sie sind neu, in Ansehung
ihrer Abstraction, aber sehr alt in Ansehung der
Muster, aus welchen sie abstrahiret worden.
Sie sind neu, in Betrachtung, daß seine Vor-
gänger nur immer auf das Gegentheil gedrun-
gen; aber unter diese Vorgänger gehört weder
Aristoteles noch Horaz, welchen durchaus nichts
entfahren ist, was ihre Ausleger und Nachfol-
ger in ihrer Prädilection für dieses Gegentheil
hätte bestärken können, dessen gute Wirkung
sie weder den meisten noch den besten Stücken
der Alten abgesehen hatten.

Un-
B b b 3

Dieſes auf den Aegisth angewendet, iſt es
klar, fuͤr welchen von beiden Planen ſich Di-
derot erklaͤren wuͤrde: ob fuͤr den alten des Eu-
ripides, wo die Zuſchauer gleich vom Anfange
den Aegisth eben ſo gut kennen, als er ſich ſelbſt;
oder fuͤr den neuern des Maffei, den Voltaire
ſo blindlings angenommen, wo Aegisth ſich und
den Zuſchauern ein Raͤthſel iſt, und dadurch das
ganze Stuͤck 〟zu einem Zuſammenhange von
kleinen Kunſtgriffen〟
macht, die weiter nichts
als eine kurze Ueberraſchung hervorbringen.

Diderot hat auch nicht ganz Unrecht, ſeine
Gedanken uͤber die Entbehrlichkeit und Gering-
fuͤgigkeit aller ungewiſſen Erwartungen und
ploͤtzlichen Ueberraſchungen, die ſich auf den
Zuſchauer beziehen, fuͤr eben ſo neu als gegruͤn-
det auszugeben. Sie ſind neu, in Anſehung
ihrer Abſtraction, aber ſehr alt in Anſehung der
Muſter, aus welchen ſie abſtrahiret worden.
Sie ſind neu, in Betrachtung, daß ſeine Vor-
gaͤnger nur immer auf das Gegentheil gedrun-
gen; aber unter dieſe Vorgaͤnger gehoͤrt weder
Ariſtoteles noch Horaz, welchen durchaus nichts
entfahren iſt, was ihre Ausleger und Nachfol-
ger in ihrer Praͤdilection fuͤr dieſes Gegentheil
haͤtte beſtaͤrken koͤnnen, deſſen gute Wirkung
ſie weder den meiſten noch den beſten Stuͤcken
der Alten abgeſehen hatten.

Un-
B b b 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0395" n="381"/>
        <p>Die&#x017F;es auf den Aegisth angewendet, i&#x017F;t es<lb/>
klar, fu&#x0364;r welchen von beiden Planen &#x017F;ich Di-<lb/>
derot erkla&#x0364;ren wu&#x0364;rde: ob fu&#x0364;r den alten des Eu-<lb/>
ripides, wo die Zu&#x017F;chauer gleich vom Anfange<lb/>
den Aegisth eben &#x017F;o gut kennen, als er &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t;<lb/>
oder fu&#x0364;r den neuern des Maffei, den Voltaire<lb/>
&#x017F;o blindlings angenommen, wo Aegisth &#x017F;ich und<lb/>
den Zu&#x017F;chauern ein Ra&#x0364;th&#x017F;el i&#x017F;t, und dadurch das<lb/>
ganze Stu&#x0364;ck <cit><quote>&#x301F;zu einem Zu&#x017F;ammenhange von<lb/>
kleinen Kun&#x017F;tgriffen&#x301F;</quote></cit> macht, die weiter nichts<lb/>
als eine kurze Ueberra&#x017F;chung hervorbringen.</p><lb/>
        <p>Diderot hat auch nicht ganz Unrecht, &#x017F;eine<lb/>
Gedanken u&#x0364;ber die Entbehrlichkeit und Gering-<lb/>
fu&#x0364;gigkeit aller ungewi&#x017F;&#x017F;en Erwartungen und<lb/>
plo&#x0364;tzlichen Ueberra&#x017F;chungen, die &#x017F;ich auf den<lb/>
Zu&#x017F;chauer beziehen, fu&#x0364;r eben &#x017F;o neu als gegru&#x0364;n-<lb/>
det auszugeben. Sie &#x017F;ind neu, in An&#x017F;ehung<lb/>
ihrer Ab&#x017F;traction, aber &#x017F;ehr alt in An&#x017F;ehung der<lb/>
Mu&#x017F;ter, aus welchen &#x017F;ie ab&#x017F;trahiret worden.<lb/>
Sie &#x017F;ind neu, in Betrachtung, daß &#x017F;eine Vor-<lb/>
ga&#x0364;nger nur immer auf das Gegentheil gedrun-<lb/>
gen; aber unter die&#x017F;e Vorga&#x0364;nger geho&#x0364;rt weder<lb/>
Ari&#x017F;toteles noch Horaz, welchen durchaus nichts<lb/>
entfahren i&#x017F;t, was ihre Ausleger und Nachfol-<lb/>
ger in ihrer Pra&#x0364;dilection fu&#x0364;r die&#x017F;es Gegentheil<lb/>
ha&#x0364;tte be&#x017F;ta&#x0364;rken ko&#x0364;nnen, de&#x017F;&#x017F;en gute Wirkung<lb/>
&#x017F;ie weder den mei&#x017F;ten noch den be&#x017F;ten Stu&#x0364;cken<lb/>
der Alten abge&#x017F;ehen hatten.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">B b b 3</fw>
        <fw place="bottom" type="catch">Un-</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[381/0395] Dieſes auf den Aegisth angewendet, iſt es klar, fuͤr welchen von beiden Planen ſich Di- derot erklaͤren wuͤrde: ob fuͤr den alten des Eu- ripides, wo die Zuſchauer gleich vom Anfange den Aegisth eben ſo gut kennen, als er ſich ſelbſt; oder fuͤr den neuern des Maffei, den Voltaire ſo blindlings angenommen, wo Aegisth ſich und den Zuſchauern ein Raͤthſel iſt, und dadurch das ganze Stuͤck 〟zu einem Zuſammenhange von kleinen Kunſtgriffen〟 macht, die weiter nichts als eine kurze Ueberraſchung hervorbringen. Diderot hat auch nicht ganz Unrecht, ſeine Gedanken uͤber die Entbehrlichkeit und Gering- fuͤgigkeit aller ungewiſſen Erwartungen und ploͤtzlichen Ueberraſchungen, die ſich auf den Zuſchauer beziehen, fuͤr eben ſo neu als gegruͤn- det auszugeben. Sie ſind neu, in Anſehung ihrer Abſtraction, aber ſehr alt in Anſehung der Muſter, aus welchen ſie abſtrahiret worden. Sie ſind neu, in Betrachtung, daß ſeine Vor- gaͤnger nur immer auf das Gegentheil gedrun- gen; aber unter dieſe Vorgaͤnger gehoͤrt weder Ariſtoteles noch Horaz, welchen durchaus nichts entfahren iſt, was ihre Ausleger und Nachfol- ger in ihrer Praͤdilection fuͤr dieſes Gegentheil haͤtte beſtaͤrken koͤnnen, deſſen gute Wirkung ſie weder den meiſten noch den beſten Stuͤcken der Alten abgeſehen hatten. Un- B b b 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/395
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/395>, abgerufen am 01.11.2024.