Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

sie sich mit meinen Absichten nur besser vertragen
wollten.

Ueber die Merope indeß muß ich freylich ein-
mal wegzukommen suchen. -- Ich wollte eigent-
lich nur erweisen, daß die Merope des Voltaire
im Grunde nichts als die Merope des Maffei
sey; und ich meine, dieses habe ich erwiesen.
Nicht ebenderselbe Stoff, sagt Aristoteles,
sondern ebendieselbe Verwicklung und Auflö-
sung machen, daß zwey oder mehrere Stücke
für ebendieselben Stücke zu halten sind. Also,
nicht weil Voltaire mit dem Maffei einerley Ge-
schichte behandelt hat, sondern weil er sie mit
ihm auf ebendieselbe Art behandelt hat, ist er
hier für weiter nichts, als für den Uebersetzer
und Nachahmer desselben zu erklären. Maffei
hat die Merope des Euripides nicht blos wieder
hergestellet; er hat eine eigene Merope gemacht:
denn er ging völlig von dem Plane des Euripi-
des ab; und in dem Vorsatze ein Stück ohne
Galanterie zu machen, in welchem das ganze
Interesse blos aus der mütterlichen Zärtlichkeit
entspringe, schuf er die ganze Fabel um; gut,
oder übel, das ist hier die Frage nicht; genug,
er fchuf sie doch um. Voltaire aber entlehnte
von Maffei die ganze so umgeschaffene Fabel; er
entlehnte von ihm, daß Merope mit dem Poly-
phont nicht vermählt ist; er entlehnte von ihm
die politischen Ursachen, aus welchen der Tyrann,

nun
D d d 2

ſie ſich mit meinen Abſichten nur beſſer vertragen
wollten.

Ueber die Merope indeß muß ich freylich ein-
mal wegzukommen ſuchen. — Ich wollte eigent-
lich nur erweiſen, daß die Merope des Voltaire
im Grunde nichts als die Merope des Maffei
ſey; und ich meine, dieſes habe ich erwieſen.
Nicht ebenderſelbe Stoff, ſagt Ariſtoteles,
ſondern ebendieſelbe Verwicklung und Aufloͤ-
ſung machen, daß zwey oder mehrere Stuͤcke
fuͤr ebendieſelben Stuͤcke zu halten ſind. Alſo,
nicht weil Voltaire mit dem Maffei einerley Ge-
ſchichte behandelt hat, ſondern weil er ſie mit
ihm auf ebendieſelbe Art behandelt hat, iſt er
hier fuͤr weiter nichts, als fuͤr den Ueberſetzer
und Nachahmer deſſelben zu erklaͤren. Maffei
hat die Merope des Euripides nicht blos wieder
hergeſtellet; er hat eine eigene Merope gemacht:
denn er ging voͤllig von dem Plane des Euripi-
des ab; und in dem Vorſatze ein Stuͤck ohne
Galanterie zu machen, in welchem das ganze
Intereſſe blos aus der muͤtterlichen Zaͤrtlichkeit
entſpringe, ſchuf er die ganze Fabel um; gut,
oder uͤbel, das iſt hier die Frage nicht; genug,
er fchuf ſie doch um. Voltaire aber entlehnte
von Maffei die ganze ſo umgeſchaffene Fabel; er
entlehnte von ihm, daß Merope mit dem Poly-
phont nicht vermaͤhlt iſt; er entlehnte von ihm
die politiſchen Urſachen, aus welchen der Tyrann,

nun
D d d 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0409" n="395"/>
&#x017F;ie &#x017F;ich mit meinen Ab&#x017F;ichten nur be&#x017F;&#x017F;er vertragen<lb/>
wollten.</p><lb/>
        <p>Ueber die Merope indeß muß ich freylich ein-<lb/>
mal wegzukommen &#x017F;uchen. &#x2014; Ich wollte eigent-<lb/>
lich nur erwei&#x017F;en, daß die Merope des Voltaire<lb/>
im Grunde nichts als die Merope des Maffei<lb/>
&#x017F;ey; und ich meine, die&#x017F;es habe ich erwie&#x017F;en.<lb/>
Nicht ebender&#x017F;elbe Stoff, &#x017F;agt Ari&#x017F;toteles,<lb/>
&#x017F;ondern ebendie&#x017F;elbe Verwicklung und Auflo&#x0364;-<lb/>
&#x017F;ung machen, daß zwey oder mehrere Stu&#x0364;cke<lb/>
fu&#x0364;r ebendie&#x017F;elben Stu&#x0364;cke zu halten &#x017F;ind. Al&#x017F;o,<lb/>
nicht weil Voltaire mit dem Maffei einerley Ge-<lb/>
&#x017F;chichte behandelt hat, &#x017F;ondern weil er &#x017F;ie mit<lb/>
ihm auf ebendie&#x017F;elbe Art behandelt hat, i&#x017F;t er<lb/>
hier fu&#x0364;r weiter nichts, als fu&#x0364;r den Ueber&#x017F;etzer<lb/>
und Nachahmer de&#x017F;&#x017F;elben zu erkla&#x0364;ren. Maffei<lb/>
hat die Merope des Euripides nicht blos wieder<lb/>
herge&#x017F;tellet; er hat eine eigene Merope gemacht:<lb/>
denn er ging vo&#x0364;llig von dem Plane des Euripi-<lb/>
des ab; und in dem Vor&#x017F;atze ein Stu&#x0364;ck ohne<lb/>
Galanterie zu machen, in welchem das ganze<lb/>
Intere&#x017F;&#x017F;e blos aus der mu&#x0364;tterlichen Za&#x0364;rtlichkeit<lb/>
ent&#x017F;pringe, &#x017F;chuf er die ganze Fabel um; gut,<lb/>
oder u&#x0364;bel, das i&#x017F;t hier die Frage nicht; genug,<lb/>
er fchuf &#x017F;ie doch um. Voltaire aber entlehnte<lb/>
von Maffei die ganze &#x017F;o umge&#x017F;chaffene Fabel; er<lb/>
entlehnte von ihm, daß Merope mit dem Poly-<lb/>
phont nicht verma&#x0364;hlt i&#x017F;t; er entlehnte von ihm<lb/>
die politi&#x017F;chen Ur&#x017F;achen, aus welchen der Tyrann,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D d d 2</fw><fw place="bottom" type="catch">nun</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[395/0409] ſie ſich mit meinen Abſichten nur beſſer vertragen wollten. Ueber die Merope indeß muß ich freylich ein- mal wegzukommen ſuchen. — Ich wollte eigent- lich nur erweiſen, daß die Merope des Voltaire im Grunde nichts als die Merope des Maffei ſey; und ich meine, dieſes habe ich erwieſen. Nicht ebenderſelbe Stoff, ſagt Ariſtoteles, ſondern ebendieſelbe Verwicklung und Aufloͤ- ſung machen, daß zwey oder mehrere Stuͤcke fuͤr ebendieſelben Stuͤcke zu halten ſind. Alſo, nicht weil Voltaire mit dem Maffei einerley Ge- ſchichte behandelt hat, ſondern weil er ſie mit ihm auf ebendieſelbe Art behandelt hat, iſt er hier fuͤr weiter nichts, als fuͤr den Ueberſetzer und Nachahmer deſſelben zu erklaͤren. Maffei hat die Merope des Euripides nicht blos wieder hergeſtellet; er hat eine eigene Merope gemacht: denn er ging voͤllig von dem Plane des Euripi- des ab; und in dem Vorſatze ein Stuͤck ohne Galanterie zu machen, in welchem das ganze Intereſſe blos aus der muͤtterlichen Zaͤrtlichkeit entſpringe, ſchuf er die ganze Fabel um; gut, oder uͤbel, das iſt hier die Frage nicht; genug, er fchuf ſie doch um. Voltaire aber entlehnte von Maffei die ganze ſo umgeſchaffene Fabel; er entlehnte von ihm, daß Merope mit dem Poly- phont nicht vermaͤhlt iſt; er entlehnte von ihm die politiſchen Urſachen, aus welchen der Tyrann, nun D d d 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/409
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/409>, abgerufen am 24.11.2024.