chen, und wird zuletzt ein Frauenzimmer, das, als ein Muster der Tugend, alle, die man jemals erdich- tet hat, weit übertrift." Dieses letztere wird sie durch ihren Gehorsam, durch die Aufopferung ih- rer Liebe, durch die Gewalt, die sie über ihr Herz gewinnet. Wenn nun aber von allen diesen in dem Stücke nichts zu hören und zu sehen ist: was bleibt von ihr übrig, als, wie gesagt, das schwache ver- führerische Mädchen, das Tugend und Weisheit auf der Zunge, und Thorheit im Herzen hat?
Den St. Preux des Rousseau hat Herr Heufeld in einen Siegmund umgetauft. Der Name Siegmund schmecket bey uns ziemlich nach dem Domestiquen. Ich wünschte, daß unsere dramatischen Dichter auch in sol- chen Kleinigkeiten ein wenig gesuchterer, und auf den Ton der großen Welt aufmerksamer seyn wollten. -- St. Preux spielt schon bey dem Rousseau eine sehr ab- geschmackte Figur. "Sie nennen ihn alle, sagt der an- geführte Kunstrichter, den Philosophen. Den Philo- sophen! Ich möchte wissen, was der junge Mensch in der ganzen Geschichte spricht oder thut, dadurch er die- sen Namen verdienet? In meinen Augen ist er der al- bernste Mensch von der Welt, der in allgemeinen Aus- rufungen Vernunft und Weisheit bis in den Himmel erhebt, und nicht den geringsten Funken davon besitzet. In seiner Liebe ist er abentheuerlich, schwülstig, aus- gelassen, und in seinem übrigen Thun und Lassen findet sich nicht die geringste Spur von Ueberlegung. Er setzet das stolzeste Zutrauen in seine Vernunft, und ist den- noch nicht entschlossen genug, den kleinsten Schritt zu thun, ohne von seiner Schülerinn, oder von seinem Freunde an der Hand geführet zu werden." -- Aber wie tief ist der deutsche Siegmund noch unter diesen St. Preux!
Ham-
chen, und wird zuletzt ein Frauenzimmer, das, als ein Muſter der Tugend, alle, die man jemals erdich- tet hat, weit uͤbertrift.〟 Dieſes letztere wird ſie durch ihren Gehorſam, durch die Aufopferung ih- rer Liebe, durch die Gewalt, die ſie uͤber ihr Herz gewinnet. Wenn nun aber von allen dieſen in dem Stuͤcke nichts zu hoͤren und zu ſehen iſt: was bleibt von ihr uͤbrig, als, wie geſagt, das ſchwache ver- fuͤhreriſche Maͤdchen, das Tugend und Weisheit auf der Zunge, und Thorheit im Herzen hat?
Den St. Preux des Rouſſeau hat Herr Heufeld in einen Siegmund umgetauft. Der Name Siegmund ſchmecket bey uns ziemlich nach dem Domeſtiquen. Ich wuͤnſchte, daß unſere dramatiſchen Dichter auch in ſol- chen Kleinigkeiten ein wenig geſuchterer, und auf den Ton der großen Welt aufmerkſamer ſeyn wollten. — St. Preux ſpielt ſchon bey dem Rouſſeau eine ſehr ab- geſchmackte Figur. 〟Sie nennen ihn alle, ſagt der an- gefuͤhrte Kunſtrichter, den Philoſophen. Den Philo- ſophen! Ich moͤchte wiſſen, was der junge Menſch in der ganzen Geſchichte ſpricht oder thut, dadurch er die- ſen Namen verdienet? In meinen Augen iſt er der al- bernſte Menſch von der Welt, der in allgemeinen Aus- rufungen Vernunft und Weisheit bis in den Himmel erhebt, und nicht den geringſten Funken davon beſitzet. In ſeiner Liebe iſt er abentheuerlich, ſchwuͤlſtig, aus- gelaſſen, und in ſeinem uͤbrigen Thun und Laſſen findet ſich nicht die geringſte Spur von Ueberlegung. Er ſetzet das ſtolzeſte Zutrauen in ſeine Vernunft, und iſt den- noch nicht entſchloſſen genug, den kleinſten Schritt zu thun, ohne von ſeiner Schuͤlerinn, oder von ſeinem Freunde an der Hand gefuͤhret zu werden.〟 — Aber wie tief iſt der deutſche Siegmund noch unter dieſen St. Preux!
Ham-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0078"n="64"/>
chen, und wird zuletzt ein Frauenzimmer, das, als<lb/>
ein Muſter der Tugend, alle, die man jemals erdich-<lb/>
tet hat, weit uͤbertrift.〟 Dieſes letztere wird ſie<lb/>
durch ihren Gehorſam, durch die Aufopferung ih-<lb/>
rer Liebe, durch die Gewalt, die ſie uͤber ihr Herz<lb/>
gewinnet. Wenn nun aber von allen dieſen in dem<lb/>
Stuͤcke nichts zu hoͤren und zu ſehen iſt: was bleibt<lb/>
von ihr uͤbrig, als, wie geſagt, das ſchwache ver-<lb/>
fuͤhreriſche Maͤdchen, das Tugend und Weisheit<lb/>
auf der Zunge, und Thorheit im Herzen hat?</p><lb/><p>Den St. Preux des Rouſſeau hat Herr Heufeld in<lb/>
einen Siegmund umgetauft. Der Name Siegmund<lb/>ſchmecket bey uns ziemlich nach dem Domeſtiquen. Ich<lb/>
wuͤnſchte, daß unſere dramatiſchen Dichter auch in ſol-<lb/>
chen Kleinigkeiten ein wenig geſuchterer, und auf den<lb/>
Ton der großen Welt aufmerkſamer ſeyn wollten. —<lb/>
St. Preux ſpielt ſchon bey dem Rouſſeau eine ſehr ab-<lb/>
geſchmackte Figur. 〟Sie nennen ihn alle, ſagt der an-<lb/>
gefuͤhrte Kunſtrichter, den Philoſophen. Den Philo-<lb/>ſophen! Ich moͤchte wiſſen, was der junge Menſch in<lb/>
der ganzen Geſchichte ſpricht oder thut, dadurch er die-<lb/>ſen Namen verdienet? In meinen Augen iſt er der al-<lb/>
bernſte Menſch von der Welt, der in allgemeinen Aus-<lb/>
rufungen Vernunft und Weisheit bis in den Himmel<lb/>
erhebt, und nicht den geringſten Funken davon beſitzet.<lb/>
In ſeiner Liebe iſt er abentheuerlich, ſchwuͤlſtig, aus-<lb/>
gelaſſen, und in ſeinem uͤbrigen Thun und Laſſen findet<lb/>ſich nicht die geringſte Spur von Ueberlegung. Er ſetzet<lb/>
das ſtolzeſte Zutrauen in ſeine Vernunft, und iſt den-<lb/>
noch nicht entſchloſſen genug, den kleinſten Schritt zu<lb/>
thun, ohne von ſeiner Schuͤlerinn, oder von ſeinem<lb/>
Freunde an der Hand gefuͤhret zu werden.〟— Aber<lb/>
wie tief iſt der deutſche Siegmund noch unter dieſen<lb/>
St. Preux!</p></div><lb/><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#b">Ham-</hi></fw><lb/></body></text></TEI>
[64/0078]
chen, und wird zuletzt ein Frauenzimmer, das, als
ein Muſter der Tugend, alle, die man jemals erdich-
tet hat, weit uͤbertrift.〟 Dieſes letztere wird ſie
durch ihren Gehorſam, durch die Aufopferung ih-
rer Liebe, durch die Gewalt, die ſie uͤber ihr Herz
gewinnet. Wenn nun aber von allen dieſen in dem
Stuͤcke nichts zu hoͤren und zu ſehen iſt: was bleibt
von ihr uͤbrig, als, wie geſagt, das ſchwache ver-
fuͤhreriſche Maͤdchen, das Tugend und Weisheit
auf der Zunge, und Thorheit im Herzen hat?
Den St. Preux des Rouſſeau hat Herr Heufeld in
einen Siegmund umgetauft. Der Name Siegmund
ſchmecket bey uns ziemlich nach dem Domeſtiquen. Ich
wuͤnſchte, daß unſere dramatiſchen Dichter auch in ſol-
chen Kleinigkeiten ein wenig geſuchterer, und auf den
Ton der großen Welt aufmerkſamer ſeyn wollten. —
St. Preux ſpielt ſchon bey dem Rouſſeau eine ſehr ab-
geſchmackte Figur. 〟Sie nennen ihn alle, ſagt der an-
gefuͤhrte Kunſtrichter, den Philoſophen. Den Philo-
ſophen! Ich moͤchte wiſſen, was der junge Menſch in
der ganzen Geſchichte ſpricht oder thut, dadurch er die-
ſen Namen verdienet? In meinen Augen iſt er der al-
bernſte Menſch von der Welt, der in allgemeinen Aus-
rufungen Vernunft und Weisheit bis in den Himmel
erhebt, und nicht den geringſten Funken davon beſitzet.
In ſeiner Liebe iſt er abentheuerlich, ſchwuͤlſtig, aus-
gelaſſen, und in ſeinem uͤbrigen Thun und Laſſen findet
ſich nicht die geringſte Spur von Ueberlegung. Er ſetzet
das ſtolzeſte Zutrauen in ſeine Vernunft, und iſt den-
noch nicht entſchloſſen genug, den kleinſten Schritt zu
thun, ohne von ſeiner Schuͤlerinn, oder von ſeinem
Freunde an der Hand gefuͤhret zu werden.〟 — Aber
wie tief iſt der deutſche Siegmund noch unter dieſen
St. Preux!
Ham-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/78>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.