Wenn das Neue hierinn bestand, so ist es sehr gut, daß man die neue Gattung eingehen lassen. Mehr oder weniger künstlich, Erzeh- lung bleibt immer Erzehlung, und wir wollen auf dem Theater wirkliche Handlungen sehen. -- Aber ist es denn auch wahr, daß alles darinn erzehlt wird? daß alles nur Handlung zu seyn scheint? Voltaire hätte diesen alten Einwurf nicht wieder aufwärmen sollen; oder, anstatt ihn in ein anscheinendes Lob zu verkehren, hätte er wenigstens die Antwort beyfügen sollen, die Moliere selbst darauf ertheilte, und die sehr pas- send ist. Die Erzehlungen nehmlich sind in die- sem Stücke, vermöge der innern Verfassung desselben, wirkliche Handlung; sie haben alles, was zu einer komischen Handlung erforderlich ist; und es ist bloße Wortklauberey, ihnen die- sen Namen hier streitig zu machen. (*) Denn es kömmt ja weit weniger auf die Vorfälle an, welche erzehlt werden, als auf den Eindruck, welchen diese Vorfälle auf den betrognen Alten machen, wenn er sie erfährt. Das Lächerliche dieses Alten wollte Moliere vornehmlich schil- dern; ihn müssen wir also vornehmlich sehen, wie er sich bey dem Unfalle, der ihm drohet, ge-
behr-
(*) In der Kritik der Frauenschule, in der Per- son des Dorante: Les recits euxmemes y sont des actions suivant la constitution du sujet.
Wenn das Neue hierinn beſtand, ſo iſt es ſehr gut, daß man die neue Gattung eingehen laſſen. Mehr oder weniger künſtlich, Erzeh- lung bleibt immer Erzehlung, und wir wollen auf dem Theater wirkliche Handlungen ſehen. — Aber iſt es denn auch wahr, daß alles darinn erzehlt wird? daß alles nur Handlung zu ſeyn ſcheint? Voltaire hätte dieſen alten Einwurf nicht wieder aufwärmen ſollen; oder, anſtatt ihn in ein anſcheinendes Lob zu verkehren, hätte er wenigſtens die Antwort beyfügen ſollen, die Moliere ſelbſt darauf ertheilte, und die ſehr paſ- ſend iſt. Die Erzehlungen nehmlich ſind in die- ſem Stücke, vermöge der innern Verfaſſung deſſelben, wirkliche Handlung; ſie haben alles, was zu einer komiſchen Handlung erforderlich iſt; und es iſt bloße Wortklauberey, ihnen die- ſen Namen hier ſtreitig zu machen. (*) Denn es kömmt ja weit weniger auf die Vorfälle an, welche erzehlt werden, als auf den Eindruck, welchen dieſe Vorfälle auf den betrognen Alten machen, wenn er ſie erfährt. Das Lächerliche dieſes Alten wollte Moliere vornehmlich ſchil- dern; ihn müſſen wir alſo vornehmlich ſehen, wie er ſich bey dem Unfalle, der ihm drohet, ge-
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(*) In der Kritik der Frauenſchule, in der Per- ſon des Dorante: Les recits euxmêmes y ſont des actions ſuivant la conſtitution du ſujet.
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Wenn das Neue hierinn beſtand, ſo iſt es
ſehr gut, daß man die neue Gattung eingehen
laſſen. Mehr oder weniger künſtlich, Erzeh-
lung bleibt immer Erzehlung, und wir wollen
auf dem Theater wirkliche Handlungen ſehen. —
Aber iſt es denn auch wahr, daß alles darinn
erzehlt wird? daß alles nur Handlung zu ſeyn
ſcheint? Voltaire hätte dieſen alten Einwurf
nicht wieder aufwärmen ſollen; oder, anſtatt
ihn in ein anſcheinendes Lob zu verkehren, hätte
er wenigſtens die Antwort beyfügen ſollen, die
Moliere ſelbſt darauf ertheilte, und die ſehr paſ-
ſend iſt. Die Erzehlungen nehmlich ſind in die-
ſem Stücke, vermöge der innern Verfaſſung
deſſelben, wirkliche Handlung; ſie haben alles,
was zu einer komiſchen Handlung erforderlich
iſt; und es iſt bloße Wortklauberey, ihnen die-
ſen Namen hier ſtreitig zu machen. (*) Denn
es kömmt ja weit weniger auf die Vorfälle an,
welche erzehlt werden, als auf den Eindruck,
welchen dieſe Vorfälle auf den betrognen Alten
machen, wenn er ſie erfährt. Das Lächerliche
dieſes Alten wollte Moliere vornehmlich ſchil-
dern; ihn müſſen wir alſo vornehmlich ſehen,
wie er ſich bey dem Unfalle, der ihm drohet, ge-
behr-
(*) In der Kritik der Frauenſchule, in der Per-
ſon des Dorante: Les recits euxmêmes y
ſont des actions ſuivant la conſtitution
du ſujet.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/13>, abgerufen am 21.11.2024.
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