Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

selbst die Kunst, Kunst zu seyn aufhören; we-
nigstens keine höhere Kunst seyn, als etwa die
Kunst, die bunten Adern des Marmors in Gyps
nachzuahmen; ihr Zug und Lauf mag gerathen,
wie er will, der seltsamste kann so seltsam nicht
seyn, daß er nicht natürlich scheinen könnte;
blos und allein der scheinet es nicht, bey wel-
chem sich zu viel Symmetrie, zu viel Ebenmaaß
und Verhältniß, zu viel von dem zeiget, was
in jeder andern Kunst die Kunst ausmacht; der
künstlichste in diesem Verstande ist hier der
schlechteste, und der wildeste der beste.

Als Kriticus dürfte unser Verfasser ganz an-
ders sprechen. Was er hier so sinnreich auf-
stützen zu wollen scheinet, würde er ohne Zwei-
fel als eine Mißgeburth des barbarischen Ge-
schmacks verdammen, wenigstens als die ersten
Versuche der unter ungeschlachteten Völkern
wieder auflebenden Kunst vorstellen, an deren
Form irgend ein Zusammenfluß gewisser äußer-
lichen Ursachen, oder das Ohngefehr, den mei-
sten, Vernunft und Ueberlegung aber den we-
nigsten, auch wohl ganz und gar keinen Antheil
hatte. Er würde schwerlich sagen, daß die
ersten Erfinder des Mischspiels (da das Wort
einmal da ist, warum soll ich es nicht brauchen?)
"die Natur eben so getreu nachahmen wollen,
"als die Griechen sich angelegen seyn lassen, sie
"zu verschönern."

Die

ſelbſt die Kunſt, Kunſt zu ſeyn aufhören; we-
nigſtens keine höhere Kunſt ſeyn, als etwa die
Kunſt, die bunten Adern des Marmors in Gyps
nachzuahmen; ihr Zug und Lauf mag gerathen,
wie er will, der ſeltſamſte kann ſo ſeltſam nicht
ſeyn, daß er nicht natürlich ſcheinen könnte;
blos und allein der ſcheinet es nicht, bey wel-
chem ſich zu viel Symmetrie, zu viel Ebenmaaß
und Verhältniß, zu viel von dem zeiget, was
in jeder andern Kunſt die Kunſt ausmacht; der
künſtlichſte in dieſem Verſtande iſt hier der
ſchlechteſte, und der wildeſte der beſte.

Als Kriticus dürfte unſer Verfaſſer ganz an-
ders ſprechen. Was er hier ſo ſinnreich auf-
ſtützen zu wollen ſcheinet, würde er ohne Zwei-
fel als eine Mißgeburth des barbariſchen Ge-
ſchmacks verdammen, wenigſtens als die erſten
Verſuche der unter ungeſchlachteten Völkern
wieder auflebenden Kunſt vorſtellen, an deren
Form irgend ein Zuſammenfluß gewiſſer äußer-
lichen Urſachen, oder das Ohngefehr, den mei-
ſten, Vernunft und Ueberlegung aber den we-
nigſten, auch wohl ganz und gar keinen Antheil
hatte. Er würde ſchwerlich ſagen, daß die
erſten Erfinder des Miſchſpiels (da das Wort
einmal da iſt, warum ſoll ich es nicht brauchen?)
„die Natur eben ſo getreu nachahmen wollen,
„als die Griechen ſich angelegen ſeyn laſſen, ſie
„zu verſchönern.„

Die
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0144" n="138"/>
&#x017F;elb&#x017F;t die Kun&#x017F;t, Kun&#x017F;t zu &#x017F;eyn aufhören; we-<lb/>
nig&#x017F;tens keine höhere Kun&#x017F;t &#x017F;eyn, als etwa die<lb/>
Kun&#x017F;t, die bunten Adern des Marmors in Gyps<lb/>
nachzuahmen; ihr Zug und Lauf mag gerathen,<lb/>
wie er will, der &#x017F;elt&#x017F;am&#x017F;te kann &#x017F;o &#x017F;elt&#x017F;am nicht<lb/>
&#x017F;eyn, daß er nicht natürlich &#x017F;cheinen könnte;<lb/>
blos und allein der &#x017F;cheinet es nicht, bey wel-<lb/>
chem &#x017F;ich zu viel Symmetrie, zu viel Ebenmaaß<lb/>
und Verhältniß, zu viel von dem zeiget, was<lb/>
in jeder andern Kun&#x017F;t die Kun&#x017F;t ausmacht; der<lb/>
kün&#x017F;tlich&#x017F;te in die&#x017F;em Ver&#x017F;tande i&#x017F;t hier der<lb/>
&#x017F;chlechte&#x017F;te, und der wilde&#x017F;te der be&#x017F;te.</p><lb/>
        <p>Als Kriticus dürfte un&#x017F;er Verfa&#x017F;&#x017F;er ganz an-<lb/>
ders &#x017F;prechen. Was er hier &#x017F;o &#x017F;innreich auf-<lb/>
&#x017F;tützen zu wollen &#x017F;cheinet, würde er ohne Zwei-<lb/>
fel als eine Mißgeburth des barbari&#x017F;chen Ge-<lb/>
&#x017F;chmacks verdammen, wenig&#x017F;tens als die er&#x017F;ten<lb/>
Ver&#x017F;uche der unter unge&#x017F;chlachteten Völkern<lb/>
wieder auflebenden Kun&#x017F;t vor&#x017F;tellen, an deren<lb/>
Form irgend ein Zu&#x017F;ammenfluß gewi&#x017F;&#x017F;er äußer-<lb/>
lichen Ur&#x017F;achen, oder das Ohngefehr, den mei-<lb/>
&#x017F;ten, Vernunft und Ueberlegung aber den we-<lb/>
nig&#x017F;ten, auch wohl ganz und gar keinen Antheil<lb/>
hatte. Er würde &#x017F;chwerlich &#x017F;agen, daß die<lb/>
er&#x017F;ten Erfinder des Mi&#x017F;ch&#x017F;piels (da das Wort<lb/>
einmal da i&#x017F;t, warum &#x017F;oll ich es nicht brauchen?)<lb/>
&#x201E;die Natur eben &#x017F;o getreu nachahmen wollen,<lb/>
&#x201E;als die Griechen &#x017F;ich angelegen &#x017F;eyn la&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ie<lb/>
&#x201E;zu ver&#x017F;chönern.&#x201E;</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">Die</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[138/0144] ſelbſt die Kunſt, Kunſt zu ſeyn aufhören; we- nigſtens keine höhere Kunſt ſeyn, als etwa die Kunſt, die bunten Adern des Marmors in Gyps nachzuahmen; ihr Zug und Lauf mag gerathen, wie er will, der ſeltſamſte kann ſo ſeltſam nicht ſeyn, daß er nicht natürlich ſcheinen könnte; blos und allein der ſcheinet es nicht, bey wel- chem ſich zu viel Symmetrie, zu viel Ebenmaaß und Verhältniß, zu viel von dem zeiget, was in jeder andern Kunſt die Kunſt ausmacht; der künſtlichſte in dieſem Verſtande iſt hier der ſchlechteſte, und der wildeſte der beſte. Als Kriticus dürfte unſer Verfaſſer ganz an- ders ſprechen. Was er hier ſo ſinnreich auf- ſtützen zu wollen ſcheinet, würde er ohne Zwei- fel als eine Mißgeburth des barbariſchen Ge- ſchmacks verdammen, wenigſtens als die erſten Verſuche der unter ungeſchlachteten Völkern wieder auflebenden Kunſt vorſtellen, an deren Form irgend ein Zuſammenfluß gewiſſer äußer- lichen Urſachen, oder das Ohngefehr, den mei- ſten, Vernunft und Ueberlegung aber den we- nigſten, auch wohl ganz und gar keinen Antheil hatte. Er würde ſchwerlich ſagen, daß die erſten Erfinder des Miſchſpiels (da das Wort einmal da iſt, warum ſoll ich es nicht brauchen?) „die Natur eben ſo getreu nachahmen wollen, „als die Griechen ſich angelegen ſeyn laſſen, ſie „zu verſchönern.„ Die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/144
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/144>, abgerufen am 18.12.2024.