und ihre Aufmerksamkeit nach Gutdünken len- ken zu können.
Dieses Vermögen üben wir in allen Augen- blicken des Lebens; ohne dasselbe würde es für uns gar kein Leben geben; wir würden vor allzu verschiedenen Empfindungen nichts empfinden; wir würden ein beständiger Raub des gegenwär- tigen Eindruckes seyn; wir würden träumen, ohne zu wissen, was wir träumten.
Die Bestimmung der Kunst ist, uns in dem Reiche des Schönen dieser Absonderung zu überheben, uns die Fixirung unserer Auf- merksamkeit zu erleichtern. Alles, was wir in der Natur von einem Gegenstande, oder einer Verbindung verschiedener Gegenstände, es sey der Zeit oder dem Raume nach, in unsern Gedanken absondern, oder absondern zu können wünschen, sondert sie wirklich ab, und gewährt uns diesen Gegenstand, oder diese Verbindung verschiedener Gegenstände, so lau- ter und bündig, als es nur immer die Empfin- dung, die sie erregen sollen, verstattet.
Wenn wir Zeugen von einer wichtigen und rührenden Begebenheit sind, und eine andere von nichtigem Belange läuft queer ein: so su- chen wir der Zerstreuung, die diese uns drohet, möglichst auszuweichen. Wir abstrahiren von ihr; und es muß uns nothwendig eckeln, in der
Kunst
S 3
und ihre Aufmerkſamkeit nach Gutdünken len- ken zu können.
Dieſes Vermögen üben wir in allen Augen- blicken des Lebens; ohne daſſelbe würde es für uns gar kein Leben geben; wir würden vor allzu verſchiedenen Empfindungen nichts empfinden; wir würden ein beſtändiger Raub des gegenwär- tigen Eindruckes ſeyn; wir würden träumen, ohne zu wiſſen, was wir träumten.
Die Beſtimmung der Kunſt iſt, uns in dem Reiche des Schönen dieſer Abſonderung zu überheben, uns die Fixirung unſerer Auf- merkſamkeit zu erleichtern. Alles, was wir in der Natur von einem Gegenſtande, oder einer Verbindung verſchiedener Gegenſtände, es ſey der Zeit oder dem Raume nach, in unſern Gedanken abſondern, oder abſondern zu können wünſchen, ſondert ſie wirklich ab, und gewährt uns dieſen Gegenſtand, oder dieſe Verbindung verſchiedener Gegenſtände, ſo lau- ter und bündig, als es nur immer die Empfin- dung, die ſie erregen ſollen, verſtattet.
Wenn wir Zeugen von einer wichtigen und rührenden Begebenheit ſind, und eine andere von nichtigem Belange läuft queer ein: ſo ſu- chen wir der Zerſtreuung, die dieſe uns drohet, möglichſt auszuweichen. Wir abſtrahiren von ihr; und es muß uns nothwendig eckeln, in der
Kunſt
S 3
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0147"n="141"/>
und ihre Aufmerkſamkeit nach Gutdünken len-<lb/>
ken zu können.</p><lb/><p>Dieſes Vermögen üben wir in allen Augen-<lb/>
blicken des Lebens; ohne daſſelbe würde es für<lb/>
uns gar kein Leben geben; wir würden vor allzu<lb/>
verſchiedenen Empfindungen nichts empfinden;<lb/>
wir würden ein beſtändiger Raub des gegenwär-<lb/>
tigen Eindruckes ſeyn; wir würden träumen,<lb/>
ohne zu wiſſen, was wir träumten.</p><lb/><p>Die Beſtimmung der Kunſt iſt, uns in<lb/>
dem Reiche des Schönen dieſer Abſonderung<lb/>
zu überheben, uns die Fixirung unſerer Auf-<lb/>
merkſamkeit zu erleichtern. Alles, was wir<lb/>
in der Natur von einem Gegenſtande, oder<lb/>
einer Verbindung verſchiedener Gegenſtände,<lb/>
es ſey der Zeit oder dem Raume nach, in<lb/>
unſern Gedanken abſondern, oder abſondern<lb/>
zu können wünſchen, ſondert ſie wirklich ab,<lb/>
und gewährt uns dieſen Gegenſtand, oder dieſe<lb/>
Verbindung verſchiedener Gegenſtände, ſo lau-<lb/>
ter und bündig, als es nur immer die Empfin-<lb/>
dung, die ſie erregen ſollen, verſtattet.</p><lb/><p>Wenn wir Zeugen von einer wichtigen und<lb/>
rührenden Begebenheit ſind, und eine andere<lb/>
von nichtigem Belange läuft queer ein: ſo ſu-<lb/>
chen wir der Zerſtreuung, die dieſe uns drohet,<lb/>
möglichſt auszuweichen. Wir abſtrahiren von<lb/>
ihr; und es muß uns nothwendig eckeln, in der<lb/><fwplace="bottom"type="sig">S 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">Kunſt</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[141/0147]
und ihre Aufmerkſamkeit nach Gutdünken len-
ken zu können.
Dieſes Vermögen üben wir in allen Augen-
blicken des Lebens; ohne daſſelbe würde es für
uns gar kein Leben geben; wir würden vor allzu
verſchiedenen Empfindungen nichts empfinden;
wir würden ein beſtändiger Raub des gegenwär-
tigen Eindruckes ſeyn; wir würden träumen,
ohne zu wiſſen, was wir träumten.
Die Beſtimmung der Kunſt iſt, uns in
dem Reiche des Schönen dieſer Abſonderung
zu überheben, uns die Fixirung unſerer Auf-
merkſamkeit zu erleichtern. Alles, was wir
in der Natur von einem Gegenſtande, oder
einer Verbindung verſchiedener Gegenſtände,
es ſey der Zeit oder dem Raume nach, in
unſern Gedanken abſondern, oder abſondern
zu können wünſchen, ſondert ſie wirklich ab,
und gewährt uns dieſen Gegenſtand, oder dieſe
Verbindung verſchiedener Gegenſtände, ſo lau-
ter und bündig, als es nur immer die Empfin-
dung, die ſie erregen ſollen, verſtattet.
Wenn wir Zeugen von einer wichtigen und
rührenden Begebenheit ſind, und eine andere
von nichtigem Belange läuft queer ein: ſo ſu-
chen wir der Zerſtreuung, die dieſe uns drohet,
möglichſt auszuweichen. Wir abſtrahiren von
ihr; und es muß uns nothwendig eckeln, in der
Kunſt
S 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/147>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.