Schon Shakespear hatte das Leben und den Tod des dritten Richards auf die Bühne ge- bracht: aber Herr Weiß erinnerte sich dessen nicht eher, als bis sein Werk bereits fertig war. "Sollte ich also, sagt er, bey der Vergleichung "schon viel verlieren: so wird man doch wenig- "stens finden, daß ich kein Plagium begangen "habe; -- aber vielleicht wäre es ein Verdienst "gewesen, an dem Shakespear ein Plagium zu "begehen."
Vorausgesetzt, daß man eines an ihm bege- hen kann. Aber was man von dem Homer gesagt hat, es lasse sich dem Herkules eher seine Keule, als ihm ein Vers abringen, das läßt sich vollkommen auch vom Shakespear sagen. Auf die geringste von seinen Schönheiten ist ein Stämpel gedruckt, welcher gleich der ganzen Welt zuruft: ich bin Shakespears! Und wehe der fremden Schönheit, die das Herz hat, sich neben ihr zu stellen!
Shakespear will studiert, nicht geplündert seyn. Haben wir Genie, so muß uns Shake- spear das seyn, was dem Landschaftsmahler die Camera obscura ist: er sehe fleißig hinein, um zu lernen, wie sich die Natur in allen Fällen auf Eine Fläche projektiret; aber er borge nichts daraus.
Jch wüßte auch wirklich in dem ganzen Stücke des Shakespears keine einzige Scene, sogar keine
ein-
X 3
Schon Shakeſpear hatte das Leben und den Tod des dritten Richards auf die Bühne ge- bracht: aber Herr Weiß erinnerte ſich deſſen nicht eher, als bis ſein Werk bereits fertig war. „Sollte ich alſo, ſagt er, bey der Vergleichung „ſchon viel verlieren: ſo wird man doch wenig- „ſtens finden, daß ich kein Plagium begangen „habe; — aber vielleicht wäre es ein Verdienſt „geweſen, an dem Shakeſpear ein Plagium zu „begehen.„
Vorausgeſetzt, daß man eines an ihm bege- hen kann. Aber was man von dem Homer geſagt hat, es laſſe ſich dem Herkules eher ſeine Keule, als ihm ein Vers abringen, das läßt ſich vollkommen auch vom Shakeſpear ſagen. Auf die geringſte von ſeinen Schönheiten iſt ein Stämpel gedruckt, welcher gleich der ganzen Welt zuruft: ich bin Shakeſpears! Und wehe der fremden Schönheit, die das Herz hat, ſich neben ihr zu ſtellen!
Shakeſpear will ſtudiert, nicht geplündert ſeyn. Haben wir Genie, ſo muß uns Shake- ſpear das ſeyn, was dem Landſchaftsmahler die Camera obſcura iſt: er ſehe fleißig hinein, um zu lernen, wie ſich die Natur in allen Fällen auf Eine Fläche projektiret; aber er borge nichts daraus.
Jch wüßte auch wirklich in dem ganzen Stücke des Shakeſpears keine einzige Scene, ſogar keine
ein-
X 3
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0171"n="165"/><p>Schon Shakeſpear hatte das Leben und den<lb/>
Tod des dritten Richards auf die Bühne ge-<lb/>
bracht: aber Herr Weiß erinnerte ſich deſſen<lb/>
nicht eher, als bis ſein Werk bereits fertig war.<lb/>„Sollte ich alſo, ſagt er, bey der Vergleichung<lb/>„ſchon viel verlieren: ſo wird man doch wenig-<lb/>„ſtens finden, daß ich kein Plagium begangen<lb/>„habe; — aber vielleicht wäre es ein Verdienſt<lb/>„geweſen, an dem Shakeſpear ein Plagium zu<lb/>„begehen.„</p><lb/><p>Vorausgeſetzt, daß man eines an ihm bege-<lb/>
hen kann. Aber was man von dem Homer<lb/>
geſagt hat, es laſſe ſich dem Herkules eher ſeine<lb/>
Keule, als ihm ein Vers abringen, das läßt<lb/>ſich vollkommen auch vom Shakeſpear ſagen.<lb/>
Auf die geringſte von ſeinen Schönheiten iſt ein<lb/>
Stämpel gedruckt, welcher gleich der ganzen<lb/>
Welt zuruft: ich bin Shakeſpears! Und wehe<lb/>
der fremden Schönheit, die das Herz hat, ſich<lb/>
neben ihr zu ſtellen!</p><lb/><p>Shakeſpear will ſtudiert, nicht geplündert<lb/>ſeyn. Haben wir Genie, ſo muß uns Shake-<lb/>ſpear das ſeyn, was dem Landſchaftsmahler die<lb/>
Camera obſcura iſt: er ſehe fleißig hinein, um<lb/>
zu lernen, wie ſich die Natur in allen Fällen auf<lb/>
Eine Fläche projektiret; aber er borge nichts<lb/>
daraus.</p><lb/><p>Jch wüßte auch wirklich in dem ganzen Stücke<lb/>
des Shakeſpears keine einzige Scene, ſogar keine<lb/><fwplace="bottom"type="sig">X 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">ein-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[165/0171]
Schon Shakeſpear hatte das Leben und den
Tod des dritten Richards auf die Bühne ge-
bracht: aber Herr Weiß erinnerte ſich deſſen
nicht eher, als bis ſein Werk bereits fertig war.
„Sollte ich alſo, ſagt er, bey der Vergleichung
„ſchon viel verlieren: ſo wird man doch wenig-
„ſtens finden, daß ich kein Plagium begangen
„habe; — aber vielleicht wäre es ein Verdienſt
„geweſen, an dem Shakeſpear ein Plagium zu
„begehen.„
Vorausgeſetzt, daß man eines an ihm bege-
hen kann. Aber was man von dem Homer
geſagt hat, es laſſe ſich dem Herkules eher ſeine
Keule, als ihm ein Vers abringen, das läßt
ſich vollkommen auch vom Shakeſpear ſagen.
Auf die geringſte von ſeinen Schönheiten iſt ein
Stämpel gedruckt, welcher gleich der ganzen
Welt zuruft: ich bin Shakeſpears! Und wehe
der fremden Schönheit, die das Herz hat, ſich
neben ihr zu ſtellen!
Shakeſpear will ſtudiert, nicht geplündert
ſeyn. Haben wir Genie, ſo muß uns Shake-
ſpear das ſeyn, was dem Landſchaftsmahler die
Camera obſcura iſt: er ſehe fleißig hinein, um
zu lernen, wie ſich die Natur in allen Fällen auf
Eine Fläche projektiret; aber er borge nichts
daraus.
Jch wüßte auch wirklich in dem ganzen Stücke
des Shakeſpears keine einzige Scene, ſogar keine
ein-
X 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/171>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.