der Tragödie zufrieden seyn, welche nur Mitleid und keine Furcht erreget; denn er hielt die Sache selbst für unmöglich; dergleichen Handlungen existirten ihm nicht; sondern sobald sie unser Mitleid zu erwecken fähig wären, glaubte er, müßten sie auch Furcht für uns erwecken; oder vielmehr, nur durch diese Furcht erweckten sie Mitleid. Noch weniger konnte er sich die Handlung einer Tragödie vorstellen, welche Furcht für uns erregen könne, ohne zugleich unser Mitleid zu erwecken: denn er war über- zeugt, daß alles, was uns Furcht für uns selbst errege, auch unser Mitleid erwecken müsse, so- bald wir andere damit bedrohet, oder betroffen erblickten; und das ist eben der Fall der Tra- gödie, wo wir alle das Uebel, welches wir fürchten, nicht uns, sondern anderen begegnen sehen.
Es ist wahr, wenn Aristoteles von den Handlungen spricht, die sich in die Tragödie nicht schicken, so bedient er sich mehrmalen des Ausdrucks von ihnen, daß sie weder Mitleid noch Furcht erwecken. Aber desto schlimmer, wenn sich Corneille durch dieses weder noch verführen lassen. Diese disjunctive Partikeln involviren nicht immer, was er sie involviren läßt. Denn wenn wir zwey oder mehrere Dinge von einer Sache durch sie verneinen, so kömmt es darauf an, ob sich diese Dinge eben
so
der Tragödie zufrieden ſeyn, welche nur Mitleid und keine Furcht erreget; denn er hielt die Sache ſelbſt für unmöglich; dergleichen Handlungen exiſtirten ihm nicht; ſondern ſobald ſie unſer Mitleid zu erwecken fähig wären, glaubte er, müßten ſie auch Furcht für uns erwecken; oder vielmehr, nur durch dieſe Furcht erweckten ſie Mitleid. Noch weniger konnte er ſich die Handlung einer Tragödie vorſtellen, welche Furcht für uns erregen könne, ohne zugleich unſer Mitleid zu erwecken: denn er war über- zeugt, daß alles, was uns Furcht für uns ſelbſt errege, auch unſer Mitleid erwecken müſſe, ſo- bald wir andere damit bedrohet, oder betroffen erblickten; und das iſt eben der Fall der Tra- gödie, wo wir alle das Uebel, welches wir fürchten, nicht uns, ſondern anderen begegnen ſehen.
Es iſt wahr, wenn Ariſtoteles von den Handlungen ſpricht, die ſich in die Tragödie nicht ſchicken, ſo bedient er ſich mehrmalen des Ausdrucks von ihnen, daß ſie weder Mitleid noch Furcht erwecken. Aber deſto ſchlimmer, wenn ſich Corneille durch dieſes weder noch verführen laſſen. Dieſe disjunctive Partikeln involviren nicht immer, was er ſie involviren läßt. Denn wenn wir zwey oder mehrere Dinge von einer Sache durch ſie verneinen, ſo kömmt es darauf an, ob ſich dieſe Dinge eben
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der Tragödie zufrieden ſeyn, welche nur Mitleid
und keine Furcht erreget; denn er hielt die Sache
ſelbſt für unmöglich; dergleichen Handlungen
exiſtirten ihm nicht; ſondern ſobald ſie unſer
Mitleid zu erwecken fähig wären, glaubte er,
müßten ſie auch Furcht für uns erwecken; oder
vielmehr, nur durch dieſe Furcht erweckten ſie
Mitleid. Noch weniger konnte er ſich die
Handlung einer Tragödie vorſtellen, welche
Furcht für uns erregen könne, ohne zugleich
unſer Mitleid zu erwecken: denn er war über-
zeugt, daß alles, was uns Furcht für uns ſelbſt
errege, auch unſer Mitleid erwecken müſſe, ſo-
bald wir andere damit bedrohet, oder betroffen
erblickten; und das iſt eben der Fall der Tra-
gödie, wo wir alle das Uebel, welches wir
fürchten, nicht uns, ſondern anderen begegnen
ſehen.
Es iſt wahr, wenn Ariſtoteles von den
Handlungen ſpricht, die ſich in die Tragödie
nicht ſchicken, ſo bedient er ſich mehrmalen des
Ausdrucks von ihnen, daß ſie weder Mitleid
noch Furcht erwecken. Aber deſto ſchlimmer,
wenn ſich Corneille durch dieſes weder noch
verführen laſſen. Dieſe disjunctive Partikeln
involviren nicht immer, was er ſie involviren
läßt. Denn wenn wir zwey oder mehrere
Dinge von einer Sache durch ſie verneinen, ſo
kömmt es darauf an, ob ſich dieſe Dinge eben
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/192>, abgerufen am 21.11.2024.
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