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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

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ben. -- Jch verweise desfalls auf das nehmliche
neunte Kapitel des zweyten Buchs seiner Rhe-
torik. (*)

Was endlich den moralischen Endzweck anbe-
langt, welchen Aristoteles der Tragödie giebt,
und den er mit in die Erklärung derselben brin-
gen zu müssen glaubte: so ist bekannt, wie sehr,
besonders in den neuern Zeiten, darüber ge-
stritten worden. Jch getraue mich aber zu er-
weisen, daß alle, die sich dawider erklärt, den
Aristoteles nicht verstanden haben. Sie haben
ihm alle ihre eigene Gedanken untergeschoben,
ehe sie gewiß wußten, welches seine wären. Sie
bestreiten Grillen, die sie selbst gefangen, und
bilden sich ein, wie unwidersprechlich sie den
Philosophen widerlegen, indem sie ihr eigenes
Hirngespinste zu Schanden machen. Jch kann
mich in die nähere Erörterung dieser Sache hier
nicht einlassen. Damit ich jedoch nicht ganz
ohne Beweis zu sprechen scheine, will ich zwey
Anmerkungen machen.

1. Sie lassen den Aristoteles sagen, "die Tra-
"gödie solle uns, vermittelst des Schreckens und

"Mit-
(*) Epei d' eggus phainomena ta pathe, eleeina eisi.
ta de murioson etos genomena, e esomena, ou't' elpi-
zontes, ou'te memnemenoi, e olos ou'k eleousin, e ou'kh'
omoios, anagke tous sunapergazomenous skhemasi kai
phonais, kai estheti, kai olos te upokrisei, eleeino-
terous einai.

ben. — Jch verweiſe desfalls auf das nehmliche
neunte Kapitel des zweyten Buchs ſeiner Rhe-
torik. (*)

Was endlich den moraliſchen Endzweck anbe-
langt, welchen Ariſtoteles der Tragödie giebt,
und den er mit in die Erklärung derſelben brin-
gen zu müſſen glaubte: ſo iſt bekannt, wie ſehr,
beſonders in den neuern Zeiten, darüber ge-
ſtritten worden. Jch getraue mich aber zu er-
weiſen, daß alle, die ſich dawider erklärt, den
Ariſtoteles nicht verſtanden haben. Sie haben
ihm alle ihre eigene Gedanken untergeſchoben,
ehe ſie gewiß wußten, welches ſeine wären. Sie
beſtreiten Grillen, die ſie ſelbſt gefangen, und
bilden ſich ein, wie unwiderſprechlich ſie den
Philoſophen widerlegen, indem ſie ihr eigenes
Hirngeſpinſte zu Schanden machen. Jch kann
mich in die nähere Erörterung dieſer Sache hier
nicht einlaſſen. Damit ich jedoch nicht ganz
ohne Beweis zu ſprechen ſcheine, will ich zwey
Anmerkungen machen.

1. Sie laſſen den Ariſtoteles ſagen, „die Tra-
„gödie ſolle uns, vermittelſt des Schreckens und

„Mit-
(*) Επει δ᾽ εγγυς φαινομενα τα παϑη, ἐλεεινα ἐισι.
τα δε μυριοςον ἐτος γενομενα, ἠ εσομενα, ου᾽τ᾽ ἐλπι-
ζοντες, ου᾽τε μεμνημενοι, ἠ ὁλως ου᾽κ ἐλεουσιν, ἠ ου᾽χ᾽
ὁμοιως, ἀναγκη τους συναπεργαζομενους σχημασι και
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τερους εἰναι.
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[198/0204] ben. — Jch verweiſe desfalls auf das nehmliche neunte Kapitel des zweyten Buchs ſeiner Rhe- torik. (*) Was endlich den moraliſchen Endzweck anbe- langt, welchen Ariſtoteles der Tragödie giebt, und den er mit in die Erklärung derſelben brin- gen zu müſſen glaubte: ſo iſt bekannt, wie ſehr, beſonders in den neuern Zeiten, darüber ge- ſtritten worden. Jch getraue mich aber zu er- weiſen, daß alle, die ſich dawider erklärt, den Ariſtoteles nicht verſtanden haben. Sie haben ihm alle ihre eigene Gedanken untergeſchoben, ehe ſie gewiß wußten, welches ſeine wären. Sie beſtreiten Grillen, die ſie ſelbſt gefangen, und bilden ſich ein, wie unwiderſprechlich ſie den Philoſophen widerlegen, indem ſie ihr eigenes Hirngeſpinſte zu Schanden machen. Jch kann mich in die nähere Erörterung dieſer Sache hier nicht einlaſſen. Damit ich jedoch nicht ganz ohne Beweis zu ſprechen ſcheine, will ich zwey Anmerkungen machen. 1. Sie laſſen den Ariſtoteles ſagen, „die Tra- „gödie ſolle uns, vermittelſt des Schreckens und „Mit- (*) Επει δ᾽ εγγυς φαινομενα τα παϑη, ἐλεεινα ἐισι. τα δε μυριοςον ἐτος γενομενα, ἠ εσομενα, ου᾽τ᾽ ἐλπι- ζοντες, ου᾽τε μεμνημενοι, ἠ ὁλως ου᾽κ ἐλεουσιν, ἠ ου᾽χ᾽ ὁμοιως, ἀναγκη τους συναπεργαζομενους σχημασι και ϕωναις, και ἐσϑητι, και ὁλως τῃ ὑποκρισει, ἐλεεινο- τερους εἰναι.

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/204>, abgerufen am 21.11.2024.