der mit seiner Philosophie sonst nicht ganz unbe- kannt ist, über diese Sache zu sagen für nöthig halten konnte. Corneille selbst bemerkte eine Stelle, die uns, nach seiner Meinung, Licht genug geben könne, die Art und Weise zu ent- decken, auf welche die Reinigung der Leiden- schaften in der Tragödie geschehe: nehmlich die, wo Aristoteles sagt, "das Mitleid verlange ei- nen, der unverdient leide, und die Furcht einen unsers gleichen." Diese Stelle ist auch wirk- lich sehr wichtig, nur daß Corneille einen fal- schen Gebrauch davon machte, und nicht wohl anders als machen konnte, weil er einmal die Reinigung der Leidenschaften überhaupt im Kopfe hatte. "Das Mitleid mit dem Un- "glücke, sagt er, von welchem wir unsers glei- "chen befallen sehen, erweckt in uns die Furcht, "daß uns ein ähnliches Unglück treffen könne; "diese Furcht erweckt die Begierde, ihm auszu- "weichen; und diese Begierde ein Bestreben, "die Leidenschaft, durch welche die Person, die "wir betauern, sich ihr Unglück vor unsern Au- "gen zuziehet, zu reinigen, zu mäßigen, zu bes- "sern, ja gar auszurotten; indem einem jeden "die Vernunft sagt, daß man die Ursache ab- "schneiden müsse, wenn man die Wirkung ver- "meiden wolle." Aber dieses Raisonnement, welche die Furcht blos zum Werkzeuge macht, durch welches das Mitleid die Reinigung der
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der mit ſeiner Philoſophie ſonſt nicht ganz unbe- kannt iſt, über dieſe Sache zu ſagen für nöthig halten konnte. Corneille ſelbſt bemerkte eine Stelle, die uns, nach ſeiner Meinung, Licht genug geben könne, die Art und Weiſe zu ent- decken, auf welche die Reinigung der Leiden- ſchaften in der Tragödie geſchehe: nehmlich die, wo Ariſtoteles ſagt, „das Mitleid verlange ei- nen, der unverdient leide, und die Furcht einen unſers gleichen.„ Dieſe Stelle iſt auch wirk- lich ſehr wichtig, nur daß Corneille einen fal- ſchen Gebrauch davon machte, und nicht wohl anders als machen konnte, weil er einmal die Reinigung der Leidenſchaften überhaupt im Kopfe hatte. „Das Mitleid mit dem Un- „glücke, ſagt er, von welchem wir unſers glei- „chen befallen ſehen, erweckt in uns die Furcht, „daß uns ein ähnliches Unglück treffen könne; „dieſe Furcht erweckt die Begierde, ihm auszu- „weichen; und dieſe Begierde ein Beſtreben, „die Leidenſchaft, durch welche die Perſon, die „wir betauern, ſich ihr Unglück vor unſern Au- „gen zuziehet, zu reinigen, zu mäßigen, zu beſ- „ſern, ja gar auszurotten; indem einem jeden „die Vernunft ſagt, daß man die Urſache ab- „ſchneiden müſſe, wenn man die Wirkung ver- „meiden wolle.„ Aber dieſes Raiſonnement, welche die Furcht blos zum Werkzeuge macht, durch welches das Mitleid die Reinigung der
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[202/0208]
der mit ſeiner Philoſophie ſonſt nicht ganz unbe-
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halten konnte. Corneille ſelbſt bemerkte eine
Stelle, die uns, nach ſeiner Meinung, Licht
genug geben könne, die Art und Weiſe zu ent-
decken, auf welche die Reinigung der Leiden-
ſchaften in der Tragödie geſchehe: nehmlich die,
wo Ariſtoteles ſagt, „das Mitleid verlange ei-
nen, der unverdient leide, und die Furcht einen
unſers gleichen.„ Dieſe Stelle iſt auch wirk-
lich ſehr wichtig, nur daß Corneille einen fal-
ſchen Gebrauch davon machte, und nicht wohl
anders als machen konnte, weil er einmal die
Reinigung der Leidenſchaften überhaupt im
Kopfe hatte. „Das Mitleid mit dem Un-
„glücke, ſagt er, von welchem wir unſers glei-
„chen befallen ſehen, erweckt in uns die Furcht,
„daß uns ein ähnliches Unglück treffen könne;
„dieſe Furcht erweckt die Begierde, ihm auszu-
„weichen; und dieſe Begierde ein Beſtreben,
„die Leidenſchaft, durch welche die Perſon, die
„wir betauern, ſich ihr Unglück vor unſern Au-
„gen zuziehet, zu reinigen, zu mäßigen, zu beſ-
„ſern, ja gar auszurotten; indem einem jeden
„die Vernunft ſagt, daß man die Urſache ab-
„ſchneiden müſſe, wenn man die Wirkung ver-
„meiden wolle.„ Aber dieſes Raiſonnement,
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/208>, abgerufen am 21.11.2024.
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