Mitleid reinigen könne und wirklich reinige. Dacier aber hat sich nur an den dritten Punkt gehalten, und auch diesen nur sehr schlecht, und auch diesen nur zur Helfte erläutert. Denn wer sich um einen richtigen und vollständigen Begriff von der Aristotelischen Reinigung der Leiden- schaften bemüht hat, wird finden, daß jeder von jenen vier Punkten einen doppelten Fall in sich schliesset. Da nehmlich, es kurz zu sagen, diese Reinigung in nichts anders beruhet, als in der Verwandlung der Leidenschaften in tu- gendhafte Fertigkeiten, bey jeder Tugend aber, nach unserm Philosophen, sich disseits und jen- seits ein Extremum findet, zwischen welchem sie inne stehet: so muß die Tragödie, wenn sie un- ser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von beiden Extremis des Mitleids zu reinigen ver- mögend seyn; welches auch von der Furcht zu verstehen. Das tragische Mitleid muß nicht allein, in Ansehung des Mitleids, die Seele desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid fühlet, sondern auch desjenigen, welcher zu wenig empfindet. Die tragische Furcht muß nicht allein, in Ansehung der Furcht, die Seele desjenigen reinigen, welcher sich ganz und gar keines Unglücks befürchtet, sondern auch desje- nigen, den ein jedes Unglück, auch das entfern- teste, auch das unwahrscheinlichste, in Angst setzet. Gleichfalls muß das tragische Mitleid,
in
Mitleid reinigen könne und wirklich reinige. Dacier aber hat ſich nur an den dritten Punkt gehalten, und auch dieſen nur ſehr ſchlecht, und auch dieſen nur zur Helfte erläutert. Denn wer ſich um einen richtigen und vollſtändigen Begriff von der Ariſtoteliſchen Reinigung der Leiden- ſchaften bemüht hat, wird finden, daß jeder von jenen vier Punkten einen doppelten Fall in ſich ſchlieſſet. Da nehmlich, es kurz zu ſagen, dieſe Reinigung in nichts anders beruhet, als in der Verwandlung der Leidenſchaften in tu- gendhafte Fertigkeiten, bey jeder Tugend aber, nach unſerm Philoſophen, ſich diſſeits und jen- ſeits ein Extremum findet, zwiſchen welchem ſie inne ſtehet: ſo muß die Tragödie, wenn ſie un- ſer Mitleid in Tugend verwandeln ſoll, uns von beiden Extremis des Mitleids zu reinigen ver- mögend ſeyn; welches auch von der Furcht zu verſtehen. Das tragiſche Mitleid muß nicht allein, in Anſehung des Mitleids, die Seele desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid fühlet, ſondern auch desjenigen, welcher zu wenig empfindet. Die tragiſche Furcht muß nicht allein, in Anſehung der Furcht, die Seele desjenigen reinigen, welcher ſich ganz und gar keines Unglücks befürchtet, ſondern auch desje- nigen, den ein jedes Unglück, auch das entfern- teſte, auch das unwahrſcheinlichſte, in Angſt ſetzet. Gleichfalls muß das tragiſche Mitleid,
in
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0213"n="207"/>
Mitleid reinigen könne und wirklich reinige.<lb/>
Dacier aber hat ſich nur an den dritten Punkt<lb/>
gehalten, und auch dieſen nur ſehr ſchlecht, und<lb/>
auch dieſen nur zur Helfte erläutert. Denn wer<lb/>ſich um einen richtigen und vollſtändigen Begriff<lb/>
von der Ariſtoteliſchen Reinigung der Leiden-<lb/>ſchaften bemüht hat, wird finden, daß jeder<lb/>
von jenen vier Punkten einen doppelten Fall in<lb/>ſich ſchlieſſet. Da nehmlich, es kurz zu ſagen,<lb/>
dieſe Reinigung in nichts anders beruhet, als<lb/>
in der Verwandlung der Leidenſchaften in tu-<lb/>
gendhafte Fertigkeiten, bey jeder Tugend aber,<lb/>
nach unſerm Philoſophen, ſich diſſeits und jen-<lb/>ſeits ein Extremum findet, zwiſchen welchem ſie<lb/>
inne ſtehet: ſo muß die Tragödie, wenn ſie un-<lb/>ſer Mitleid in Tugend verwandeln ſoll, uns von<lb/>
beiden Extremis des Mitleids zu reinigen ver-<lb/>
mögend ſeyn; welches auch von der Furcht zu<lb/>
verſtehen. Das tragiſche Mitleid muß nicht<lb/>
allein, in Anſehung des Mitleids, die Seele<lb/>
desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid<lb/>
fühlet, ſondern auch desjenigen, welcher zu<lb/>
wenig empfindet. Die tragiſche Furcht muß<lb/>
nicht allein, in Anſehung der Furcht, die Seele<lb/>
desjenigen reinigen, welcher ſich ganz und gar<lb/>
keines Unglücks befürchtet, ſondern auch desje-<lb/>
nigen, den ein jedes Unglück, auch das entfern-<lb/>
teſte, auch das unwahrſcheinlichſte, in Angſt<lb/>ſetzet. Gleichfalls muß das tragiſche Mitleid,<lb/><fwplace="bottom"type="catch">in</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[207/0213]
Mitleid reinigen könne und wirklich reinige.
Dacier aber hat ſich nur an den dritten Punkt
gehalten, und auch dieſen nur ſehr ſchlecht, und
auch dieſen nur zur Helfte erläutert. Denn wer
ſich um einen richtigen und vollſtändigen Begriff
von der Ariſtoteliſchen Reinigung der Leiden-
ſchaften bemüht hat, wird finden, daß jeder
von jenen vier Punkten einen doppelten Fall in
ſich ſchlieſſet. Da nehmlich, es kurz zu ſagen,
dieſe Reinigung in nichts anders beruhet, als
in der Verwandlung der Leidenſchaften in tu-
gendhafte Fertigkeiten, bey jeder Tugend aber,
nach unſerm Philoſophen, ſich diſſeits und jen-
ſeits ein Extremum findet, zwiſchen welchem ſie
inne ſtehet: ſo muß die Tragödie, wenn ſie un-
ſer Mitleid in Tugend verwandeln ſoll, uns von
beiden Extremis des Mitleids zu reinigen ver-
mögend ſeyn; welches auch von der Furcht zu
verſtehen. Das tragiſche Mitleid muß nicht
allein, in Anſehung des Mitleids, die Seele
desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid
fühlet, ſondern auch desjenigen, welcher zu
wenig empfindet. Die tragiſche Furcht muß
nicht allein, in Anſehung der Furcht, die Seele
desjenigen reinigen, welcher ſich ganz und gar
keines Unglücks befürchtet, ſondern auch desje-
nigen, den ein jedes Unglück, auch das entfern-
teſte, auch das unwahrſcheinlichſte, in Angſt
ſetzet. Gleichfalls muß das tragiſche Mitleid,
in
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/213>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.