Das Publikum nimt vorlieb. -- Das ist gut, und auch nicht gut. Denn man sehnt sich nicht sehr nach der Tafel, an der man immer vorlieb nehmen muß.
Es ist bekannt, wie erpicht das griechische und römische Volk auf die Schauspiele waren; besonders jenes, auf das tragische. Wie gleich- gültig, wie kalt ist dagegen unser Volk für das Theater! Woher diese Verschiedenheit, wenn sie nicht daher kömmt, daß die Griechen vor ih- rer Bühne sich mit so starken, so außerordentli- chen Empfindungen begeistert fühlten, daß sie den Augenblick nicht erwarten konnten, sie aber- mals und abermals zu haben: dahingegen wir uns vor unserer Bühne so schwacher Eindrücke bewußt sind, daß wir es selten der Zeit und des Geldes werth halten, sie uns zu verschaffen? Wir gehen, fast alle, fast immer, aus Neugier- de, aus Mode, aus Langerweile, aus Gesell- schaft, aus Begierde zu begaffen und begaft zu werden, ins Theater: und nur wenige, und diese wenige nur sparsam, aus anderer Absicht.
Jch sage, wir, unser Volk, unsere Bühne: ich meine aber nicht blos, uns Deutsche. Wir Deutsche bekennen es treuherzig genug, daß wir noch kein Theater haben. Was viele von un- sern Kunstrichtern, die in dieses Bekenntniß mit einstimmen, und große Verehrer des fran- zösischen Theaters sind, dabey denken: das kann
ich
Das Publikum nimt vorlieb. — Das iſt gut, und auch nicht gut. Denn man ſehnt ſich nicht ſehr nach der Tafel, an der man immer vorlieb nehmen muß.
Es iſt bekannt, wie erpicht das griechiſche und römiſche Volk auf die Schauſpiele waren; beſonders jenes, auf das tragiſche. Wie gleich- gültig, wie kalt iſt dagegen unſer Volk für das Theater! Woher dieſe Verſchiedenheit, wenn ſie nicht daher kömmt, daß die Griechen vor ih- rer Bühne ſich mit ſo ſtarken, ſo außerordentli- chen Empfindungen begeiſtert fühlten, daß ſie den Augenblick nicht erwarten konnten, ſie aber- mals und abermals zu haben: dahingegen wir uns vor unſerer Bühne ſo ſchwacher Eindrücke bewußt ſind, daß wir es ſelten der Zeit und des Geldes werth halten, ſie uns zu verſchaffen? Wir gehen, faſt alle, faſt immer, aus Neugier- de, aus Mode, aus Langerweile, aus Geſell- ſchaft, aus Begierde zu begaffen und begaft zu werden, ins Theater: und nur wenige, und dieſe wenige nur ſparſam, aus anderer Abſicht.
Jch ſage, wir, unſer Volk, unſere Bühne: ich meine aber nicht blos, uns Deutſche. Wir Deutſche bekennen es treuherzig genug, daß wir noch kein Theater haben. Was viele von un- ſern Kunſtrichtern, die in dieſes Bekenntniß mit einſtimmen, und große Verehrer des fran- zöſiſchen Theaters ſind, dabey denken: das kann
ich
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Das Publikum nimt vorlieb. — Das iſt gut,
und auch nicht gut. Denn man ſehnt ſich nicht
ſehr nach der Tafel, an der man immer vorlieb
nehmen muß.
Es iſt bekannt, wie erpicht das griechiſche
und römiſche Volk auf die Schauſpiele waren;
beſonders jenes, auf das tragiſche. Wie gleich-
gültig, wie kalt iſt dagegen unſer Volk für das
Theater! Woher dieſe Verſchiedenheit, wenn
ſie nicht daher kömmt, daß die Griechen vor ih-
rer Bühne ſich mit ſo ſtarken, ſo außerordentli-
chen Empfindungen begeiſtert fühlten, daß ſie
den Augenblick nicht erwarten konnten, ſie aber-
mals und abermals zu haben: dahingegen wir
uns vor unſerer Bühne ſo ſchwacher Eindrücke
bewußt ſind, daß wir es ſelten der Zeit und des
Geldes werth halten, ſie uns zu verſchaffen?
Wir gehen, faſt alle, faſt immer, aus Neugier-
de, aus Mode, aus Langerweile, aus Geſell-
ſchaft, aus Begierde zu begaffen und begaft zu
werden, ins Theater: und nur wenige, und
dieſe wenige nur ſparſam, aus anderer Abſicht.
Jch ſage, wir, unſer Volk, unſere Bühne:
ich meine aber nicht blos, uns Deutſche. Wir
Deutſche bekennen es treuherzig genug, daß wir
noch kein Theater haben. Was viele von un-
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mit einſtimmen, und große Verehrer des fran-
zöſiſchen Theaters ſind, dabey denken: das kann
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/224>, abgerufen am 21.11.2024.
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