"sache wegfällt, wenn es der Dichter so einge- "richtet, daß der Tugendhafte, welcher leidet, "mehr Mitleid für sich, als Widerwillen gegen "den erweckt, der ihn leiden läßt: alsdenn? -- "O alsdenn, sagt Corneille, halte ich dafür, "darf man sich gar kein Bedenken machen, auch "den tugendhaftesten Mann auf dem Theater im "Unglücke zu zeigen." (*) -- Jch begreife nicht, wie man gegen einen Philosophen so in den Tag hineinschwatzen kann; wie man sich das Anse- hen geben kann, ihn zu verstehen, indem man ihn Dinge sagen läßt, an die er nie gedacht hat. Das gänzlich unverschuldete Unglück eines rechtschaffenen Mannes, sagt Aristoteles, ist kein Stoff für das Trauerspiel; denn es ist gräßlich. Aus diesem Denn, aus dieser Ur- sache, macht Corneille ein Jnsofern, eine bloße Bedingung, unter welcher es tragisch zu seyn aufhört. Aristoteles sagt: es ist durchaus gräßlich, und eben daher untragisch. Cor- neille aber sagt: es ist untragisch, insofern es gräßlich ist. Dieses Gräßliche findet Aristote- les in dieser Art des Unglückes selbst: Corneille aber setzt es in den Unwillen, den es gegen den Urheber desselben verursacht. Er sieht nicht, oder will nicht sehen, daß jenes Gräßliche ganz
etwas
(*)J'estime qu'il ne faut point faire de diffi- culte d'exposer sur la scene des hommes tres vertueux.
„ſache wegfällt, wenn es der Dichter ſo einge- „richtet, daß der Tugendhafte, welcher leidet, „mehr Mitleid für ſich, als Widerwillen gegen „den erweckt, der ihn leiden läßt: alsdenn? — „O alsdenn, ſagt Corneille, halte ich dafür, „darf man ſich gar kein Bedenken machen, auch „den tugendhafteſten Mann auf dem Theater im „Unglücke zu zeigen.„ (*) — Jch begreife nicht, wie man gegen einen Philoſophen ſo in den Tag hineinſchwatzen kann; wie man ſich das Anſe- hen geben kann, ihn zu verſtehen, indem man ihn Dinge ſagen läßt, an die er nie gedacht hat. Das gänzlich unverſchuldete Unglück eines rechtſchaffenen Mannes, ſagt Ariſtoteles, iſt kein Stoff für das Trauerſpiel; denn es iſt gräßlich. Aus dieſem Denn, aus dieſer Ur- ſache, macht Corneille ein Jnſofern, eine bloße Bedingung, unter welcher es tragiſch zu ſeyn aufhört. Ariſtoteles ſagt: es iſt durchaus gräßlich, und eben daher untragiſch. Cor- neille aber ſagt: es iſt untragiſch, inſofern es gräßlich iſt. Dieſes Gräßliche findet Ariſtote- les in dieſer Art des Unglückes ſelbſt: Corneille aber ſetzt es in den Unwillen, den es gegen den Urheber deſſelben verurſacht. Er ſieht nicht, oder will nicht ſehen, daß jenes Gräßliche ganz
etwas
(*)J’eſtime qu’il ne faut point faire de diffi- culté d’expoſer ſur la ſcene des hommes tres vertueux.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0240"n="234"/>„ſache wegfällt, wenn es der Dichter ſo einge-<lb/>„richtet, daß der Tugendhafte, welcher leidet,<lb/>„mehr Mitleid für ſich, als Widerwillen gegen<lb/>„den erweckt, der ihn leiden läßt: alsdenn? —<lb/>„O alsdenn, ſagt Corneille, halte ich dafür,<lb/>„darf man ſich gar kein Bedenken machen, auch<lb/>„den tugendhafteſten Mann auf dem Theater im<lb/>„Unglücke zu zeigen.„<noteplace="foot"n="(*)"><cit><quote><hirendition="#aq">J’eſtime qu’il ne faut point faire de diffi-<lb/>
culté d’expoſer ſur la ſcene des hommes<lb/>
tres vertueux.</hi></quote><bibl/></cit></note>— Jch begreife nicht,<lb/>
wie man gegen einen Philoſophen ſo in den Tag<lb/>
hineinſchwatzen kann; wie man ſich das Anſe-<lb/>
hen geben kann, ihn zu verſtehen, indem man<lb/>
ihn Dinge ſagen läßt, an die er nie gedacht hat.<lb/>
Das gänzlich unverſchuldete Unglück eines<lb/>
rechtſchaffenen Mannes, ſagt Ariſtoteles, iſt<lb/>
kein Stoff für das Trauerſpiel; denn es iſt<lb/>
gräßlich. Aus dieſem Denn, aus dieſer Ur-<lb/>ſache, macht Corneille ein Jnſofern, eine bloße<lb/>
Bedingung, unter welcher es tragiſch zu ſeyn<lb/>
aufhört. Ariſtoteles ſagt: es iſt durchaus<lb/>
gräßlich, und eben daher untragiſch. Cor-<lb/>
neille aber ſagt: es iſt untragiſch, inſofern es<lb/>
gräßlich iſt. Dieſes Gräßliche findet Ariſtote-<lb/>
les in dieſer Art des Unglückes ſelbſt: Corneille<lb/>
aber ſetzt es in den Unwillen, den es gegen den<lb/>
Urheber deſſelben verurſacht. Er ſieht nicht,<lb/>
oder will nicht ſehen, daß jenes Gräßliche ganz<lb/><fwplace="bottom"type="catch">etwas</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[234/0240]
„ſache wegfällt, wenn es der Dichter ſo einge-
„richtet, daß der Tugendhafte, welcher leidet,
„mehr Mitleid für ſich, als Widerwillen gegen
„den erweckt, der ihn leiden läßt: alsdenn? —
„O alsdenn, ſagt Corneille, halte ich dafür,
„darf man ſich gar kein Bedenken machen, auch
„den tugendhafteſten Mann auf dem Theater im
„Unglücke zu zeigen.„ (*) — Jch begreife nicht,
wie man gegen einen Philoſophen ſo in den Tag
hineinſchwatzen kann; wie man ſich das Anſe-
hen geben kann, ihn zu verſtehen, indem man
ihn Dinge ſagen läßt, an die er nie gedacht hat.
Das gänzlich unverſchuldete Unglück eines
rechtſchaffenen Mannes, ſagt Ariſtoteles, iſt
kein Stoff für das Trauerſpiel; denn es iſt
gräßlich. Aus dieſem Denn, aus dieſer Ur-
ſache, macht Corneille ein Jnſofern, eine bloße
Bedingung, unter welcher es tragiſch zu ſeyn
aufhört. Ariſtoteles ſagt: es iſt durchaus
gräßlich, und eben daher untragiſch. Cor-
neille aber ſagt: es iſt untragiſch, inſofern es
gräßlich iſt. Dieſes Gräßliche findet Ariſtote-
les in dieſer Art des Unglückes ſelbſt: Corneille
aber ſetzt es in den Unwillen, den es gegen den
Urheber deſſelben verurſacht. Er ſieht nicht,
oder will nicht ſehen, daß jenes Gräßliche ganz
etwas
(*) J’eſtime qu’il ne faut point faire de diffi-
culté d’expoſer ſur la ſcene des hommes
tres vertueux.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/240>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.