"sie sich scheue, wenn er sie nur auf dem Throne "zu erhalten vermag, den sie allem in der Welt "vorzieht; so heftig ist ihre Herrschsucht. Aber "alle ihre Verbrechen sind mit einer gewissen "Größe der Seele verbunden, die so etwas Er- "habenes hat, daß man, indem man ihre Hand- "lungen verdammet, doch die Quelle, woraus "sie entspringen, bewundern muß. Eben die- "ses getraue ich mir von dem Lügner zu sagen. "Das Lügen ist unstreitig eine lasterhafte Ange- "wohnheit; allein Dorant bringt seine Lügen "mit einer solchen Gegenwart des Geistes, mit "so vieler Lebhaftigkeit vor, daß diese Unvoll- "kommenheit ihm ordentlich wohl läßt, und die "Zuschauer gestehen müssen, daß die Gabe so "zu lügen ein Laster sey, dessen kein Dummkopf "fähig ist. -- Wahrlich, einen verderblichern Einfall hätte Corneille nicht haben können! Befolget ihn in der Ausführung, und es ist um alle Wahrheit, um alle Täuschung, um allen sittlichen Nutzen der Tragödie gethan! Denn die Tugend, die immer bescheiden und einfältig ist, wird durch jenen glänzenden Charakter eitel und romantisch: das Laster aber, mit einem Firniß überzogen, der uns überall blendet, wir mögen es aus einem Gesichtspunkte nehmen, aus welchem wir wollen. Thorheit, bloß durch die unglücklichen Folgen von dem Laster abschre- cken wollen, indem man die innere Häßlichkeit
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„ſie ſich ſcheue, wenn er ſie nur auf dem Throne „zu erhalten vermag, den ſie allem in der Welt „vorzieht; ſo heftig iſt ihre Herrſchſucht. Aber „alle ihre Verbrechen ſind mit einer gewiſſen „Größe der Seele verbunden, die ſo etwas Er- „habenes hat, daß man, indem man ihre Hand- „lungen verdammet, doch die Quelle, woraus „ſie entſpringen, bewundern muß. Eben die- „ſes getraue ich mir von dem Lügner zu ſagen. „Das Lügen iſt unſtreitig eine laſterhafte Ange- „wohnheit; allein Dorant bringt ſeine Lügen „mit einer ſolchen Gegenwart des Geiſtes, mit „ſo vieler Lebhaftigkeit vor, daß dieſe Unvoll- „kommenheit ihm ordentlich wohl läßt, und die „Zuſchauer geſtehen müſſen, daß die Gabe ſo „zu lügen ein Laſter ſey, deſſen kein Dummkopf „fähig iſt. — Wahrlich, einen verderblichern Einfall hätte Corneille nicht haben können! Befolget ihn in der Ausführung, und es iſt um alle Wahrheit, um alle Täuſchung, um allen ſittlichen Nutzen der Tragödie gethan! Denn die Tugend, die immer beſcheiden und einfältig iſt, wird durch jenen glänzenden Charakter eitel und romantiſch: das Laſter aber, mit einem Firniß überzogen, der uns überall blendet, wir mögen es aus einem Geſichtspunkte nehmen, aus welchem wir wollen. Thorheit, bloß durch die unglücklichen Folgen von dem Laſter abſchre- cken wollen, indem man die innere Häßlichkeit
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„ſie ſich ſcheue, wenn er ſie nur auf dem Throne
„zu erhalten vermag, den ſie allem in der Welt
„vorzieht; ſo heftig iſt ihre Herrſchſucht. Aber
„alle ihre Verbrechen ſind mit einer gewiſſen
„Größe der Seele verbunden, die ſo etwas Er-
„habenes hat, daß man, indem man ihre Hand-
„lungen verdammet, doch die Quelle, woraus
„ſie entſpringen, bewundern muß. Eben die-
„ſes getraue ich mir von dem Lügner zu ſagen.
„Das Lügen iſt unſtreitig eine laſterhafte Ange-
„wohnheit; allein Dorant bringt ſeine Lügen
„mit einer ſolchen Gegenwart des Geiſtes, mit
„ſo vieler Lebhaftigkeit vor, daß dieſe Unvoll-
„kommenheit ihm ordentlich wohl läßt, und die
„Zuſchauer geſtehen müſſen, daß die Gabe ſo
„zu lügen ein Laſter ſey, deſſen kein Dummkopf
„fähig iſt. — Wahrlich, einen verderblichern
Einfall hätte Corneille nicht haben können!
Befolget ihn in der Ausführung, und es iſt um
alle Wahrheit, um alle Täuſchung, um allen
ſittlichen Nutzen der Tragödie gethan! Denn
die Tugend, die immer beſcheiden und einfältig
iſt, wird durch jenen glänzenden Charakter eitel
und romantiſch: das Laſter aber, mit einem
Firniß überzogen, der uns überall blendet, wir
mögen es aus einem Geſichtspunkte nehmen,
aus welchem wir wollen. Thorheit, bloß durch
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/249>, abgerufen am 21.11.2024.
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