"Geiste zu verdanken haben könne; welches doch "wider alle Erfahrung ist."
"Hieraus, mein Herr, antwortete ihm Se- "lim, folget weiter nichts, als daß die Neuern, "welche sich alle die Schätze zu Nutze machen "können, die bis auf ihre Zeit gesammelt worden, "reicher seyn müssen, als die Alten: oder, wenn "ihnen diese Vergleichung nicht gefällt, daß sie "auf den Schultern dieser Kolossen, auf die sie ge- "stiegen, nothwendig müssen weiter sehen kön- "nen, als diese selbst. Was ist auch, in der "That, ihre Naturlehre, ihre Astronomie, ihre "Schiffskunst, ihre Mechanik, ihre Rechenleh- "re, in Vergleichung mit unsern? Warum "sollten wir ihnen also in der Beredsamkeit und "Poesie nicht eben so wohl überlegen seyn?"
"Selim, versetzte die Sultane, der Unter- "schied ist groß, und Ricaric kann Jhnen die Ur- "sachen davon ein andermal erklären. Er mag "Jhnen sagen, warum unsere Tragödien schlech- "ter sind, als der Alten ihre: aber daß sie es "sind, kann ich leicht selbst auf mich nehmen, "Jhnen zu beweisen. Jch will Jhnen nicht "Schuld geben, fuhr sie fort, daß Sie die Al- "ten nicht gelesen haben. Sie haben sich um "zu viele schöne Kenntnisse beworben, als daß "Jhnen das Theater der Alten unbekannt seyn "sollte. Nun setzen Sie gewisse Jdeen, die sich "auf ihre Gebräuche, auf ihre Sitten, auf
"ihre
„Geiſte zu verdanken haben könne; welches doch „wider alle Erfahrung iſt.„
„Hieraus, mein Herr, antwortete ihm Se- „lim, folget weiter nichts, als daß die Neuern, „welche ſich alle die Schätze zu Nutze machen „können, die bis auf ihre Zeit geſammelt worden, „reicher ſeyn müſſen, als die Alten: oder, wenn „ihnen dieſe Vergleichung nicht gefällt, daß ſie „auf den Schultern dieſer Koloſſen, auf die ſie ge- „ſtiegen, nothwendig müſſen weiter ſehen kön- „nen, als dieſe ſelbſt. Was iſt auch, in der „That, ihre Naturlehre, ihre Aſtronomie, ihre „Schiffskunſt, ihre Mechanik, ihre Rechenleh- „re, in Vergleichung mit unſern? Warum „ſollten wir ihnen alſo in der Beredſamkeit und „Poeſie nicht eben ſo wohl überlegen ſeyn?„
„Selim, verſetzte die Sultane, der Unter- „ſchied iſt groß, und Ricaric kann Jhnen die Ur- „ſachen davon ein andermal erklären. Er mag „Jhnen ſagen, warum unſere Tragödien ſchlech- „ter ſind, als der Alten ihre: aber daß ſie es „ſind, kann ich leicht ſelbſt auf mich nehmen, „Jhnen zu beweiſen. Jch will Jhnen nicht „Schuld geben, fuhr ſie fort, daß Sie die Al- „ten nicht geleſen haben. Sie haben ſich um „zu viele ſchöne Kenntniſſe beworben, als daß „Jhnen das Theater der Alten unbekannt ſeyn „ſollte. Nun ſetzen Sie gewiſſe Jdeen, die ſich „auf ihre Gebräuche, auf ihre Sitten, auf
„ihre
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„Geiſte zu verdanken haben könne; welches doch
„wider alle Erfahrung iſt.„
„Hieraus, mein Herr, antwortete ihm Se-
„lim, folget weiter nichts, als daß die Neuern,
„welche ſich alle die Schätze zu Nutze machen
„können, die bis auf ihre Zeit geſammelt worden,
„reicher ſeyn müſſen, als die Alten: oder, wenn
„ihnen dieſe Vergleichung nicht gefällt, daß ſie
„auf den Schultern dieſer Koloſſen, auf die ſie ge-
„ſtiegen, nothwendig müſſen weiter ſehen kön-
„nen, als dieſe ſelbſt. Was iſt auch, in der
„That, ihre Naturlehre, ihre Aſtronomie, ihre
„Schiffskunſt, ihre Mechanik, ihre Rechenleh-
„re, in Vergleichung mit unſern? Warum
„ſollten wir ihnen alſo in der Beredſamkeit und
„Poeſie nicht eben ſo wohl überlegen ſeyn?„
„Selim, verſetzte die Sultane, der Unter-
„ſchied iſt groß, und Ricaric kann Jhnen die Ur-
„ſachen davon ein andermal erklären. Er mag
„Jhnen ſagen, warum unſere Tragödien ſchlech-
„ter ſind, als der Alten ihre: aber daß ſie es
„ſind, kann ich leicht ſelbſt auf mich nehmen,
„Jhnen zu beweiſen. Jch will Jhnen nicht
„Schuld geben, fuhr ſie fort, daß Sie die Al-
„ten nicht geleſen haben. Sie haben ſich um
„zu viele ſchöne Kenntniſſe beworben, als daß
„Jhnen das Theater der Alten unbekannt ſeyn
„ſollte. Nun ſetzen Sie gewiſſe Jdeen, die ſich
„auf ihre Gebräuche, auf ihre Sitten, auf
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/260>, abgerufen am 21.11.2024.
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