Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

"die Leidenschaft zeige; gerade so, wie die Alten
"von der berühmten Bildsäule des Apollodorus
"vom Silanion angemerkt haben, daß sie nicht
"sowohl den zornigen Apollodorus, als die Lei-
"denschaft des Zornes vorstelle. (*) Dieses aber
"muß blos so verstanden werden, daß er die
"hauptsächlichen Züge der vorgebildeten Lei-
"denschaft gut ausgedrückt habe. Denn im
"Uebrigen behandelt er seinen Vorwurf eben so,
"wie er jeden andern behandeln würde: das ist,
"er vergißt die mitverbundenen Eigen-
"schaften nicht, und nimmt das allgemeine
"Ebenmaaß und Verhältniß, welches man an
"einer menschlichen Figur erwartet, in Acht.
"Und das heißt denn die Natur schildern, wel-
"che uns kein Beyspiel von einem Menschen
"giebt, der ganz und gar in eine einzige Leiden-
"schaft verwandelt wäre. Keine Metamorpho-
"sis könnte seltsamer und unglaublicher seyn.
"Gleichwohl sind Portraite, in diesem tadelhaf-
"ten Geschmacke verfertiget, die Bewunderung
"gemeiner Gaffer, die, wenn sie in einer Samm-
"lung das Gemählde, z. E. eines Geitzigen,
"(denn ein gewöhnlicheres giebt es wohl in dieser
"Gattung nicht,) erblicken, und nach dieser
"Jdee jede Muskel, jeden Zug angestrenget,
"verzerret und überladen finden, sicherlich nicht

"er-
(*) Non hominem ex aere fecit, sed iracun-
diam. Plinius libr.
34. 8.

„die Leidenſchaft zeige; gerade ſo, wie die Alten
„von der berühmten Bildſäule des Apollodorus
„vom Silanion angemerkt haben, daß ſie nicht
„ſowohl den zornigen Apollodorus, als die Lei-
„denſchaft des Zornes vorſtelle. (*) Dieſes aber
„muß blos ſo verſtanden werden, daß er die
„hauptſächlichen Züge der vorgebildeten Lei-
„denſchaft gut ausgedrückt habe. Denn im
„Uebrigen behandelt er ſeinen Vorwurf eben ſo,
„wie er jeden andern behandeln würde: das iſt,
„er vergißt die mitverbundenen Eigen-
„ſchaften nicht, und nimmt das allgemeine
„Ebenmaaß und Verhältniß, welches man an
„einer menſchlichen Figur erwartet, in Acht.
„Und das heißt denn die Natur ſchildern, wel-
„che uns kein Beyſpiel von einem Menſchen
„giebt, der ganz und gar in eine einzige Leiden-
„ſchaft verwandelt wäre. Keine Metamorpho-
„ſis könnte ſeltſamer und unglaublicher ſeyn.
„Gleichwohl ſind Portraite, in dieſem tadelhaf-
„ten Geſchmacke verfertiget, die Bewunderung
„gemeiner Gaffer, die, wenn ſie in einer Samm-
„lung das Gemählde, z. E. eines Geitzigen,
„(denn ein gewöhnlicheres giebt es wohl in dieſer
„Gattung nicht,) erblicken, und nach dieſer
„Jdee jede Muſkel, jeden Zug angeſtrenget,
„verzerret und überladen finden, ſicherlich nicht

„er-
(*) Non hominem ex ære fecit, ſed iracun-
diam. Plinius libr.
34. 8.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0328" n="322"/>
&#x201E;die Leiden&#x017F;chaft zeige; gerade &#x017F;o, wie die Alten<lb/>
&#x201E;von der berühmten Bild&#x017F;äule des Apollodorus<lb/>
&#x201E;vom Silanion angemerkt haben, daß &#x017F;ie nicht<lb/>
&#x201E;&#x017F;owohl den zornigen Apollodorus, als die Lei-<lb/>
&#x201E;den&#x017F;chaft des Zornes vor&#x017F;telle. <note place="foot" n="(*)"><cit><quote><hi rendition="#aq">Non hominem ex ære fecit, &#x017F;ed iracun-<lb/>
diam. <hi rendition="#g">Plinius libr</hi>.</hi> 34. 8.</quote><bibl/></cit></note> Die&#x017F;es aber<lb/>
&#x201E;muß blos &#x017F;o ver&#x017F;tanden werden, daß er die<lb/>
&#x201E;haupt&#x017F;ächlichen Züge der vorgebildeten Lei-<lb/>
&#x201E;den&#x017F;chaft gut ausgedrückt habe. Denn im<lb/>
&#x201E;Uebrigen behandelt er &#x017F;einen Vorwurf eben &#x017F;o,<lb/>
&#x201E;wie er jeden andern behandeln würde: das i&#x017F;t,<lb/>
&#x201E;er vergißt die <hi rendition="#g">mitverbundenen</hi> Eigen-<lb/>
&#x201E;&#x017F;chaften nicht, und nimmt das allgemeine<lb/>
&#x201E;Ebenmaaß und Verhältniß, welches man an<lb/>
&#x201E;einer men&#x017F;chlichen Figur erwartet, in Acht.<lb/>
&#x201E;Und das heißt denn die Natur &#x017F;childern, wel-<lb/>
&#x201E;che uns kein Bey&#x017F;piel von einem Men&#x017F;chen<lb/>
&#x201E;giebt, der ganz und gar in eine einzige Leiden-<lb/>
&#x201E;&#x017F;chaft verwandelt wäre. Keine Metamorpho-<lb/>
&#x201E;&#x017F;is könnte &#x017F;elt&#x017F;amer und unglaublicher &#x017F;eyn.<lb/>
&#x201E;Gleichwohl &#x017F;ind Portraite, in die&#x017F;em tadelhaf-<lb/>
&#x201E;ten Ge&#x017F;chmacke verfertiget, die Bewunderung<lb/>
&#x201E;gemeiner Gaffer, die, wenn &#x017F;ie in einer Samm-<lb/>
&#x201E;lung das Gemählde, z. E. eines <hi rendition="#g">Geitzigen</hi>,<lb/>
&#x201E;(denn ein gewöhnlicheres giebt es wohl in die&#x017F;er<lb/>
&#x201E;Gattung nicht,) erblicken, und nach die&#x017F;er<lb/>
&#x201E;Jdee jede Mu&#x017F;kel, jeden Zug ange&#x017F;trenget,<lb/>
&#x201E;verzerret und überladen finden, &#x017F;icherlich nicht<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x201E;er-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[322/0328] „die Leidenſchaft zeige; gerade ſo, wie die Alten „von der berühmten Bildſäule des Apollodorus „vom Silanion angemerkt haben, daß ſie nicht „ſowohl den zornigen Apollodorus, als die Lei- „denſchaft des Zornes vorſtelle. (*) Dieſes aber „muß blos ſo verſtanden werden, daß er die „hauptſächlichen Züge der vorgebildeten Lei- „denſchaft gut ausgedrückt habe. Denn im „Uebrigen behandelt er ſeinen Vorwurf eben ſo, „wie er jeden andern behandeln würde: das iſt, „er vergißt die mitverbundenen Eigen- „ſchaften nicht, und nimmt das allgemeine „Ebenmaaß und Verhältniß, welches man an „einer menſchlichen Figur erwartet, in Acht. „Und das heißt denn die Natur ſchildern, wel- „che uns kein Beyſpiel von einem Menſchen „giebt, der ganz und gar in eine einzige Leiden- „ſchaft verwandelt wäre. Keine Metamorpho- „ſis könnte ſeltſamer und unglaublicher ſeyn. „Gleichwohl ſind Portraite, in dieſem tadelhaf- „ten Geſchmacke verfertiget, die Bewunderung „gemeiner Gaffer, die, wenn ſie in einer Samm- „lung das Gemählde, z. E. eines Geitzigen, „(denn ein gewöhnlicheres giebt es wohl in dieſer „Gattung nicht,) erblicken, und nach dieſer „Jdee jede Muſkel, jeden Zug angeſtrenget, „verzerret und überladen finden, ſicherlich nicht „er- (*) Non hominem ex ære fecit, ſed iracun- diam. Plinius libr. 34. 8.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/328
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/328>, abgerufen am 22.11.2024.