"ta kath' ekaston legei. (*) Ferner wird "hieraus ein wesentlicher Unterschied deutlich, "der sich, wie man sagt, zwischen den zwey "großen Nebenbuhlern der Griechischen Bühne "soll befunden haben. Wenn man dem So- "phokles vorwarf, daß es seinen Charakteren an "Wahrheit fehle, so pflegte er sich damit zu "verantworten, daß er die Menschen so "schildere, wie sie seyn sollten, Euri- "pides aber so, wie sie wären. Sopho- "kles ephe, autos men oious dei poiein, Euri- "pides de oioi eisi. (**) Der Sinn hiervon "ist dieser: Sophokles hatte, durch seinen aus- "gebreitetern Umgang mit Menschen, die ein- "geschränkte enge Vorstellung, welche aus der "Betrachtung einzelner Charaktere entsteht, "in einen vollständigen Begriff des Geschlechts "erweitert; der philosophische Euripides hinge- "gen, der seine meiste Zeit in der Akademie zu- "gebracht hatte, und von da aus das Leben über- "sehen wollte, hielt seinen Blick zu sehr auf "das Einzelne, auf wirklich existirende Perso- "nen geheftet, versenkte das Geschlecht in das "Jndividuum, und mahlte folglich, den vor- "habenden Gegenständen nach, seine Charaktere "zwar natürlich und wahr, aber auch dann "und wann ohne die höhere allgemeine Aehn-
"lich-
(*) Dichtkunst Kap. 9.
(**) Ebendas. Kap. 25.
T t 3
„τα ϰαϑ᾽ ἑϰαϛον λεγει. (*) Ferner wird „hieraus ein weſentlicher Unterſchied deutlich, „der ſich, wie man ſagt, zwiſchen den zwey „großen Nebenbuhlern der Griechiſchen Bühne „ſoll befunden haben. Wenn man dem So- „phokles vorwarf, daß es ſeinen Charakteren an „Wahrheit fehle, ſo pflegte er ſich damit zu „verantworten, daß er die Menſchen ſo „ſchildere, wie ſie ſeyn ſollten, Euri- „pides aber ſo, wie ſie wären. Σοφο- „ϰλης ἐϕη, ἀυτος μεν ὁιους δει ποιειν, Ευρι- „πιδης δε οἱοι ἐισι. (**) Der Sinn hiervon „iſt dieſer: Sophokles hatte, durch ſeinen aus- „gebreitetern Umgang mit Menſchen, die ein- „geſchränkte enge Vorſtellung, welche aus der „Betrachtung einzelner Charaktere entſteht, „in einen vollſtändigen Begriff des Geſchlechts „erweitert; der philoſophiſche Euripides hinge- „gen, der ſeine meiſte Zeit in der Akademie zu- „gebracht hatte, und von da aus das Leben über- „ſehen wollte, hielt ſeinen Blick zu ſehr auf „das Einzelne, auf wirklich exiſtirende Perſo- „nen geheftet, verſenkte das Geſchlecht in das „Jndividuum, und mahlte folglich, den vor- „habenden Gegenſtänden nach, ſeine Charaktere „zwar natürlich und wahr, aber auch dann „und wann ohne die höhere allgemeine Aehn-
„lich-
(*) Dichtkunſt Kap. 9.
(**) Ebendaſ. Kap. 25.
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„τα ϰαϑ᾽ ἑϰαϛον λεγει. (*) Ferner wird
„hieraus ein weſentlicher Unterſchied deutlich,
„der ſich, wie man ſagt, zwiſchen den zwey
„großen Nebenbuhlern der Griechiſchen Bühne
„ſoll befunden haben. Wenn man dem So-
„phokles vorwarf, daß es ſeinen Charakteren an
„Wahrheit fehle, ſo pflegte er ſich damit zu
„verantworten, daß er die Menſchen ſo
„ſchildere, wie ſie ſeyn ſollten, Euri-
„pides aber ſo, wie ſie wären. Σοφο-
„ϰλης ἐϕη, ἀυτος μεν ὁιους δει ποιειν, Ευρι-
„πιδης δε οἱοι ἐισι. (**) Der Sinn hiervon
„iſt dieſer: Sophokles hatte, durch ſeinen aus-
„gebreitetern Umgang mit Menſchen, die ein-
„geſchränkte enge Vorſtellung, welche aus der
„Betrachtung einzelner Charaktere entſteht,
„in einen vollſtändigen Begriff des Geſchlechts
„erweitert; der philoſophiſche Euripides hinge-
„gen, der ſeine meiſte Zeit in der Akademie zu-
„gebracht hatte, und von da aus das Leben über-
„ſehen wollte, hielt ſeinen Blick zu ſehr auf
„das Einzelne, auf wirklich exiſtirende Perſo-
„nen geheftet, verſenkte das Geſchlecht in das
„Jndividuum, und mahlte folglich, den vor-
„habenden Gegenſtänden nach, ſeine Charaktere
„zwar natürlich und wahr, aber auch dann
„und wann ohne die höhere allgemeine Aehn-
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(*) Dichtkunſt Kap. 9.
(**) Ebendaſ. Kap. 25.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/339>, abgerufen am 21.11.2024.
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