mit wir sie auch für Genies halten sollen. Doch sie verrathen zu sehr, daß sie nicht einen Funken davon in sich spüren, wenn sie in einem und eben demselben Athem hinzusetzen: "die Regeln un- terdrücken das Genie!" -- Als ob sich Genie durch etwas in der Welt unterdrücken liesse! Und noch dazu durch etwas, das, wie sie selbst gestehen, aus ihm hergeleitet ist. Nicht jeder Kunstrichter ist Genie: aber jedes Genie ist ein gebohrner Kunstrichter. Es hat die Probe aller Regeln in sich. Es begreift und behält und be- folgt nur die, die ihm seine Empfindung in Worten ausdrücken. Und diese seine in Wor- ten ausgedrückte Empfindung sollte seine Thätig- keit verringern können? Vernünftelt darüber mit ihm, so viel ihr wollt; es versteht euch nur, in so fern es eure allgemeinen Sätze den Augen- blick in einem einzeln Falle anschauend erkennet; und nur von diesem einzeln Falle bleibt Erinne- rung in ihm zurück, die während der Arbeit auf seine Kräfte nicht mehr und nicht weniger wir- ken kann, als die Erinnerung eines glücklichen Beyspiels, die Erinnerung einer eignen glück- lichen Erfahrung auf sie zu wirken im Stande ist. Behaupten also, daß Regeln und Critik das Genie unterdrücken können: heißt mit an- dern Worten behaupten, daß Beyspiele und Uebung eben dieses vermögen; heißt, das Genie nicht allein auf sich selbst, heißt es sogar, le-
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mit wir ſie auch für Genies halten ſollen. Doch ſie verrathen zu ſehr, daß ſie nicht einen Funken davon in ſich ſpüren, wenn ſie in einem und eben demſelben Athem hinzuſetzen: „die Regeln un- terdrücken das Genie!„ — Als ob ſich Genie durch etwas in der Welt unterdrücken lieſſe! Und noch dazu durch etwas, das, wie ſie ſelbſt geſtehen, aus ihm hergeleitet iſt. Nicht jeder Kunſtrichter iſt Genie: aber jedes Genie iſt ein gebohrner Kunſtrichter. Es hat die Probe aller Regeln in ſich. Es begreift und behält und be- folgt nur die, die ihm ſeine Empfindung in Worten ausdrücken. Und dieſe ſeine in Wor- ten ausgedrückte Empfindung ſollte ſeine Thätig- keit verringern können? Vernünftelt darüber mit ihm, ſo viel ihr wollt; es verſteht euch nur, in ſo fern es eure allgemeinen Sätze den Augen- blick in einem einzeln Falle anſchauend erkennet; und nur von dieſem einzeln Falle bleibt Erinne- rung in ihm zurück, die während der Arbeit auf ſeine Kräfte nicht mehr und nicht weniger wir- ken kann, als die Erinnerung eines glücklichen Beyſpiels, die Erinnerung einer eignen glück- lichen Erfahrung auf ſie zu wirken im Stande iſt. Behaupten alſo, daß Regeln und Critik das Genie unterdrücken können: heißt mit an- dern Worten behaupten, daß Beyſpiele und Uebung eben dieſes vermögen; heißt, das Genie nicht allein auf ſich ſelbſt, heißt es ſogar, le-
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mit wir ſie auch für Genies halten ſollen. Doch
ſie verrathen zu ſehr, daß ſie nicht einen Funken
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demſelben Athem hinzuſetzen: „die Regeln un-
terdrücken das Genie!„ — Als ob ſich Genie
durch etwas in der Welt unterdrücken lieſſe!
Und noch dazu durch etwas, das, wie ſie ſelbſt
geſtehen, aus ihm hergeleitet iſt. Nicht jeder
Kunſtrichter iſt Genie: aber jedes Genie iſt ein
gebohrner Kunſtrichter. Es hat die Probe aller
Regeln in ſich. Es begreift und behält und be-
folgt nur die, die ihm ſeine Empfindung in
Worten ausdrücken. Und dieſe ſeine in Wor-
ten ausgedrückte Empfindung ſollte ſeine Thätig-
keit verringern können? Vernünftelt darüber
mit ihm, ſo viel ihr wollt; es verſteht euch nur,
in ſo fern es eure allgemeinen Sätze den Augen-
blick in einem einzeln Falle anſchauend erkennet;
und nur von dieſem einzeln Falle bleibt Erinne-
rung in ihm zurück, die während der Arbeit auf
ſeine Kräfte nicht mehr und nicht weniger wir-
ken kann, als die Erinnerung eines glücklichen
Beyſpiels, die Erinnerung einer eignen glück-
lichen Erfahrung auf ſie zu wirken im Stande
iſt. Behaupten alſo, daß Regeln und Critik
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/355>, abgerufen am 23.11.2024.
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