Werden vielleicht auch manche von meinen Lesern sagen. -- Denn leider giebt es Deutsche, die noch weit französischer sind, als die Franzo- sen. Ihnen zu gefallen, habe ich diese Brocken auf einen Haufen getragen. Ich kenne ihre Art zu kritisiren. Alle die kleinen Nachläßigkeiten, die ihr zärtliches Ohr so unendlich beleidigen, die dem Dichter so schwer zu finden waren, die er mit so vieler Ueberlegung dahin und dorthin streuete, um den Dialog geschmeidig zu machen, und den Reden einen wahrern Anschein der au- genblicklichen Eingebung zu ertheilen, reihen sie sehr witzig zusammen auf einen Faden, und wol- len sich krank darüber lachen. Endlich folgt ein mitleidiges Achselzucken: "man hört wohl, daß der gute Mann die große Welt nicht kennet; daß er nicht viele Königinnen reden gehört; Racine verstand das besser; aber Racine lebte auch bey Hofe."
Dem ohngeachtet würde mich das nicht irre machen. Desto schlimmer für die Königinnen, wenn sie wirklich nicht so sprechen, nicht so spre- chen dürfen. Ich habe es lange schon geglaubt, daß der Hof der Ort eben nicht ist, wo ein Dich- ter die Natur studiren kann. Aber wenn Pomp und Etiquette aus Menschen Maschinen macht, so ist es das Werk des Dichters, aus diesen Maschinen wieder Menschen zu machen. Die wahren Königinnen mögen so gesucht und affek-
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Werden vielleicht auch manche von meinen Leſern ſagen. — Denn leider giebt es Deutſche, die noch weit franzöſiſcher ſind, als die Franzo- ſen. Ihnen zu gefallen, habe ich dieſe Brocken auf einen Haufen getragen. Ich kenne ihre Art zu kritiſiren. Alle die kleinen Nachläßigkeiten, die ihr zärtliches Ohr ſo unendlich beleidigen, die dem Dichter ſo ſchwer zu finden waren, die er mit ſo vieler Ueberlegung dahin und dorthin ſtreuete, um den Dialog geſchmeidig zu machen, und den Reden einen wahrern Anſchein der au- genblicklichen Eingebung zu ertheilen, reihen ſie ſehr witzig zuſammen auf einen Faden, und wol- len ſich krank darüber lachen. Endlich folgt ein mitleidiges Achſelzucken: „man hört wohl, daß der gute Mann die große Welt nicht kennet; daß er nicht viele Königinnen reden gehört; Racine verſtand das beſſer; aber Racine lebte auch bey Hofe.„
Dem ohngeachtet würde mich das nicht irre machen. Deſto ſchlimmer für die Königinnen, wenn ſie wirklich nicht ſo ſprechen, nicht ſo ſpre- chen dürfen. Ich habe es lange ſchon geglaubt, daß der Hof der Ort eben nicht iſt, wo ein Dich- ter die Natur ſtudiren kann. Aber wenn Pomp und Etiquette aus Menſchen Maſchinen macht, ſo iſt es das Werk des Dichters, aus dieſen Maſchinen wieder Menſchen zu machen. Die wahren Königinnen mögen ſo geſucht und affek-
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Werden vielleicht auch manche von meinen
Leſern ſagen. — Denn leider giebt es Deutſche,
die noch weit franzöſiſcher ſind, als die Franzo-
ſen. Ihnen zu gefallen, habe ich dieſe Brocken
auf einen Haufen getragen. Ich kenne ihre Art
zu kritiſiren. Alle die kleinen Nachläßigkeiten,
die ihr zärtliches Ohr ſo unendlich beleidigen,
die dem Dichter ſo ſchwer zu finden waren, die
er mit ſo vieler Ueberlegung dahin und dorthin
ſtreuete, um den Dialog geſchmeidig zu machen,
und den Reden einen wahrern Anſchein der au-
genblicklichen Eingebung zu ertheilen, reihen ſie
ſehr witzig zuſammen auf einen Faden, und wol-
len ſich krank darüber lachen. Endlich folgt ein
mitleidiges Achſelzucken: „man hört wohl, daß
der gute Mann die große Welt nicht kennet; daß
er nicht viele Königinnen reden gehört; Racine
verſtand das beſſer; aber Racine lebte auch bey
Hofe.„
Dem ohngeachtet würde mich das nicht irre
machen. Deſto ſchlimmer für die Königinnen,
wenn ſie wirklich nicht ſo ſprechen, nicht ſo ſpre-
chen dürfen. Ich habe es lange ſchon geglaubt,
daß der Hof der Ort eben nicht iſt, wo ein Dich-
ter die Natur ſtudiren kann. Aber wenn Pomp
und Etiquette aus Menſchen Maſchinen macht,
ſo iſt es das Werk des Dichters, aus dieſen
Maſchinen wieder Menſchen zu machen. Die
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/59>, abgerufen am 21.11.2024.
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