entflammet, jenes um sich greifende verzehrende Genie, jene brennende Beredsamkeit, jene er- habene Schwünge, die ihr Entzückendes dem Innersten unseres Herzens mittheilen, werden den Schriften des Frauenzimmers allezeit feh- len."
Also fehlen sie wohl auch der Cenie? Oder, wenn sie ihr nicht fehlen, so muß Cenie nothwen- dig das Werk eines Mannes seyn? Rousseau selbst würde so nicht schliessen. Er sagt viel- mehr, was er dem Frauenzimmer überhaupt ab- sprechen zu müssen glaube, wolle er darum kei- ner Frau insbesondere streitig machen. (Ce n'est pas a une femme, mais aux femmes que je refuse les talens des hommes(*).) Und dieses sagt er eben auf Veranlassung der Cenie; eben da, wo er die Graffigni als die Verfasserinn derselben anführt. Dabey merke man wohl, daß Graffigni seine Freundinn nicht war, daß sie übels von ihm gesprochen hatte, daß er sich an eben der Stelle über sie beklagt. Dem ohngeachtet erklärt er sie lieber für eine Ausnahme seines Satzes, als daß er im gering- sten auf das Vorgeben des Chevrier anspielen sollte, welches er zu thun, ohne Zweifel, Frey- müthigkeit genug gehabt hätte, wenn er nicht von dem Gegentheile überzeugt gewesen wäre.
Che-
(*)Ibid. p. 78.
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entflammet, jenes um ſich greifende verzehrende Genie, jene brennende Beredſamkeit, jene er- habene Schwünge, die ihr Entzückendes dem Innerſten unſeres Herzens mittheilen, werden den Schriften des Frauenzimmers allezeit feh- len.„
Alſo fehlen ſie wohl auch der Cenie? Oder, wenn ſie ihr nicht fehlen, ſo muß Cenie nothwen- dig das Werk eines Mannes ſeyn? Rouſſeau ſelbſt würde ſo nicht ſchlieſſen. Er ſagt viel- mehr, was er dem Frauenzimmer überhaupt ab- ſprechen zu müſſen glaube, wolle er darum kei- ner Frau insbeſondere ſtreitig machen. (Ce n’eſt pas à une femme, mais aux femmes que je refuſe les talens des hommes(*).) Und dieſes ſagt er eben auf Veranlaſſung der Cenie; eben da, wo er die Graffigni als die Verfaſſerinn derſelben anführt. Dabey merke man wohl, daß Graffigni ſeine Freundinn nicht war, daß ſie übels von ihm geſprochen hatte, daß er ſich an eben der Stelle über ſie beklagt. Dem ohngeachtet erklärt er ſie lieber für eine Ausnahme ſeines Satzes, als daß er im gering- ſten auf das Vorgeben des Chevrier anſpielen ſollte, welches er zu thun, ohne Zweifel, Frey- müthigkeit genug gehabt hätte, wenn er nicht von dem Gegentheile überzeugt geweſen wäre.
Che-
(*)Ibid. p. 78.
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entflammet, jenes um ſich greifende verzehrende
Genie, jene brennende Beredſamkeit, jene er-
habene Schwünge, die ihr Entzückendes dem
Innerſten unſeres Herzens mittheilen, werden
den Schriften des Frauenzimmers allezeit feh-
len.„
Alſo fehlen ſie wohl auch der Cenie? Oder,
wenn ſie ihr nicht fehlen, ſo muß Cenie nothwen-
dig das Werk eines Mannes ſeyn? Rouſſeau
ſelbſt würde ſo nicht ſchlieſſen. Er ſagt viel-
mehr, was er dem Frauenzimmer überhaupt ab-
ſprechen zu müſſen glaube, wolle er darum kei-
ner Frau insbeſondere ſtreitig machen. (Ce
n’eſt pas à une femme, mais aux femmes
que je refuſe les talens des hommes (*).)
Und dieſes ſagt er eben auf Veranlaſſung der
Cenie; eben da, wo er die Graffigni als die
Verfaſſerinn derſelben anführt. Dabey merke
man wohl, daß Graffigni ſeine Freundinn nicht
war, daß ſie übels von ihm geſprochen hatte,
daß er ſich an eben der Stelle über ſie beklagt.
Dem ohngeachtet erklärt er ſie lieber für eine
Ausnahme ſeines Satzes, als daß er im gering-
ſten auf das Vorgeben des Chevrier anſpielen
ſollte, welches er zu thun, ohne Zweifel, Frey-
müthigkeit genug gehabt hätte, wenn er nicht
von dem Gegentheile überzeugt geweſen wäre.
Che-
(*) Ibid. p. 78.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/9>, abgerufen am 03.12.2024.
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